(1) Die Staatsorgane gewährleisten die territoriale Integrität der Deutschen Demokratischen Republik und die Unverletzlichkeit ihrer Staatsgrenzen einschließlich ihres Luftraumes und ihrer Territorialgewässer sowie den Schutz und die Nutzung ihres Festiandsockels. (2) Die Deutsche Demokratische Republik organisiert die Landesverteidigung sowie den Schutz der sozialistischen Ordnung und des friedlichen Lebens der Bürger. Die Nationale Volksarmee und die anderen Organe der Landesverteidigung schützen die sozialistischen Errungenschaften des Volkes gegen alle Angriffe von außen. Die Nationale Volksarmee pflegt im Interesse der Wahrung des Friedens und der Sicherung des sozialistischen Staates enge Waffenbrüderschaft mit den Armeen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten.
Ursprüngliche Fassung des Artikel 7, Absatz 1 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik
(1) Die Staatsorgane gewährleisten die Unantastbarkeit des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich des Luftraums und der Territorialgewässer sowie den Schutz und die Nutzung des Festlandsockels.
I. Der Schutz des Staatsgebietes
1. Territoriale Integrität und Unverletzlichkeit der Grenzen
1 a) Der Abs. 1 wurde erst nach der Verfassungsdiskussion in den Text eingefügt (Bericht der Verfassungskommission, S. 700). Die Ersetzung der Worte »Unantastbarkeit des Staatsgebietes der Deutschen Demokratischen Republik« durch »die territoriale Integrität der Deutschen Demokratischen Republik und die Unverletzlichkeit ihrer Staatsgrenzen« in der neuen Fassung des Abs. 1 bedeutet eine Präzisierung. Es wird so deutlich gemacht, daß sowohl der territoriale Besitzstand als auch der Schutz der Grenzen vor einem unbefugten Grenzübertritt garantiert werden soll. Gleichzeitig wurde durch die Änderung Art. 7 Abs. 1 dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 Grundlagenvertrag vom 21.12.1972 [Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland (Grundlagenvertrag) vom 21.12.1972 (GBl. DDR ⅠⅠ 1973, S. 26)] angepaßt, worin die Bundesrepublik Deutschland und die DDR die »Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenzen« jetzt und in Zukunft bekräftigen und sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer »territorialen Integrität« verpflichten.
2 b) Die Grenzen der DDR zur Bundesrepublik Deutschland folgen den im Londoner Protokoll vom 12.9.1944 festgelegten Demarkationslinien (s. Rz. 13 zur Präambel). Im Zusatzprotokoll zum Grundlagenvertrag vom 21.12.1972 [Zusatzprotokoll zum Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland (Grundlagenvertrag) v. 21.12.1972 (GBl. DDR ⅠⅠ 1973, S. 27)] kamen die Vertragspartner überein, zur Überprüfung der Markierung der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR eine Grenzkommission einzusetzen, die, soweit erforderlich, die Markierung erneuern oder ergänzen sowie die erforderliche Dokumentation über den Grenzverlauf erarbeiten soll. Außerdem soll sie zur Regelung sonstiger mit dem Grenzverlauf im Zusammenhang stehender Probleme beitragen. In einer Erklärung zum Protokoll über die Aufgaben der Grenzkommission durch die beiden Delegationsleiter vom 21.12.1972 (Bulletin der Bundesregierung 1972, S. 1850) wurde bestätigt, daß die Grenze zwischen den beiden Staaten in Deutschland sich nach den diesbezüglichen Festlegungen des Londoner Protokolls vom 12.9.1944 bestimmt. Bis Februar 1978 hatte die Grenzkommission sich über die Markierung von 1298 km von insgesamt 1393 km Grenze geeinigt (Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode-Drucksache 8/1553, S. 6). Offengeblieben ist jedoch die Markierung der Elbgrenze zwischen Lauenburg und Schnakenburg. Die DDR bestreitet den Grenzverlauf auf dem rechten Elbeufer, wie ihn das Londoner Protokoll festgelegt hatte, und verlangt, daß die Talsohle als Grenzverlauf anerkannt wird, wobei sie sich auf Völkergewohnheitsrecht beruft. Über mit dem Grenzverlauf im Zusammenhang stehende Probleme wurden bis Februar 1978 fünf Vereinbarungen abgeschlossen. Darunter befindet sich die Vereinbarung über den Fischfang in einem Teil der Territorialgewässer der DDR in der Lübecker Bucht vom 29.6.1974 (GBl. DDR II 1974, S. 438), zu der über einen Protokollvermerk über den Verlauf der Grenze zwischen den Territorialgewässem der Bundesrepublik Deutschland und den Territorialgewässern der DDR vom 29.6.1974 (GBl. DDR II 1974, S. 438) Einigkeit erzielt wurde. (Der Verlauf der Grenze wurde auf einer beigefügten Karte verzeichnet.) Im Urteil des BVerfG vom 31.7.1973 (BVerfGE 36, S. 1 ff.) wird die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR als ähnlich denen bezeichnet, »die zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen«. Es läßt sich zwar nicht verkennen, daß an ihr ein Regiment besteht, wie es strenger kaum an einer völkerrechtlichen Grenze bestehen könnte (s. Rz. 9-19 zu Art. 7). Jedoch sollte dieser faktische Zustand nicht mit der Rechtslage verwechselt werden, die vom rechtlichen Fortbestand eines deutschen Gesamtstaates ausgeht. Freilich ist die Bundesrepublik nach dem Grundlagenvertrag gehalten, die innerdeutsche Grenze so zu behandeln, als ob sie eine völkerrechtliche wäre.
3 c) In der Warschauer Deklaration vom 6.6.1950 vereinbarten die DDR und Polen, »die festgelegte, zwischen den beiden Staaten bestehende unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze an der Oder und Lausitzer Neiße zu markieren«. Sie stellten im »Görlitzer Vertrag« vom 6.7.1950 [Bekanntmachung über die Ratifikation des Abkommens über die Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze v. 28.11.1950 (GBl. DDR 1950, S. 1205)] fest, daß die Oder-Neiße-Grenze »die Staatsgrenze zwischen Polen und Deutschand bildet«. Damit traf die DDR eine Verfügung, zu der sie völkerrechtlich nicht berechtigt war; denn ihr stand nicht zu, im Namen »Deutschlands« eine Grenzregelung erheblichen Ausmaßes zu treffen und dabei auf große zu Deutschland gehörige Gebiete zu verzichten. Der Deutsche Bundestag stellte am 13.6.1950 in seiner Rechtsverwahrung fest, daß die Regelung dieser Grenzfrage rechtswirksam nur durch einen Friedensvertrag erfolgen könne. Im Warschauer Vertrag mit der Volksrepublik Polen [Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7.12.1970 (BGBl. 1972 II, S. 362)] erkannte die Bundesrepublik Deutschland die Oder-Neiße-Grenze als westliche Staatsgrenze Polens an, betonte aber gleichzeitig, daß diese Anerkennung nur für die Bundesrepublik Deutschland, nicht aber durch sie im Namen »Deutschlands« erfolge. Formell ist so die Kontinuität zur früheren Erklärung gewahrt. Ob faktisch damit nicht doch eine endgültige Entscheidung getroffen wurde, kann nur die Geschichte lehren.
3a d) Im Vertrag zwischen der DDR und der CSSR über die gemeinsame Staatsgrenze vom 3.12.1980 [Gesetz zum Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik über die gemeinsame Staatsgrenze vom 3.12.1980 (GBl. DDR ⅠⅠ 1981, S. 49)] wurde der Verlauf »der historisch entstandenen und zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrages bestehenden gemeinsamen Staatsgrenze« in einer Grenzdokumentation festgelegt, die durch das »Protokoll zwischen den Regierungen der DDR, der CSSR und Polens über die Festlegung des Berührungspunktes der Staatsgrenzen Deutschlands, der Tschechoslowakei und Polens sowie über die Maßnahmen der Instandhaltung des an dem Berührungspunkt der Staatsgrenzen aufgestellten Grenzzeichens« vom 27.3.1953 ergänzt wurde.
4 e) Die Einbeziehung des Luftraumes und der Territorialgewässer in das Staatsgebiet entspricht dem Völkerrecht. Unter Territorialgewässern wird das »Küstenmeer« verstanden, das in einer bestimmten Breite vor der Küste eines Staates liegt (D. B. Lewin u.a., Völkerrecht, Lehrbuch, S. 264). Die DDR nimmt die herkömmliche Dreimeilenzone für sich in Anspruch (Gerhard Reintanz, Die Inanspruchnahme ...). Mit Wirkung vom 1.1.1978 errichtete die DDR eine Fischereizone in der Ostsee aufgrund des Mittellinienprinzips [Verordnung über die Errichtung einer Fischereizone der Deutschen Demokratischen Republik in der Ostsee vom 22.12.1977 (GBl. DDR Ⅰ 1977, S. 429)]. Darin übt sie »souveräne Rechte zum Zwecke der Erforschung, Erhaltung, Nutzung und Bewirtschaftung des Fischbestandes und der anderen lebenden Ressourcen aus«. Im Gesetz über den Fischfang in der Fischereizone der Deutschen Demokratischen Republik vom 13.10.1978 [Gesetz über den Fischfang in der Fischereizone der Deutschen Demokratischen Republik v. 13.10.1978 (GBl. DDR Ⅰ 1978, S. 380)] wurde die Ausübung des Fischfanges durch Fischereifahrzeuge aus anderen Staaten geregelt. Innerhalb dieser Zone dürfen Fischereifahrzeuge aus anderen Staaten Fischfang und andere damit im Zusammenhang stehende Aktivitäten nur auf der Grundlage von völkerrechtlichen Verträgen zwischen der DDR und diesen Staaten ausüben. Dabei können Fangquoten erteilt sowie der maximale Fischereiaufwand bezüglich der Gesamtfischerei sowie auch einzelner Arten von Fischen und spezieller Gebiete festgelegt werden. Das Gesetz regelt die Bedingungen für die Ausübung des Fischfangs in der Fischereizone, legt Bestimmungen über den Schutz und die Erhaltung der Fischbestände sowie über die Aufsicht und Kontrolle in der Fischereizone fest. Der Einsatz von Forschungsschiffen zur Erforschung der Fischbestände in der Fischereizone bedarf der vorherigen Genehmigung der zuständigen Organe der DDR. Die räumliche Auffassung vom Staatsgebiet bezieht auch den Luftraum (sowie den nicht in Art. 7 aufgeführten Raum unter der Erdoberfläche) in das Staatsgebiet ein. Bereits in § 1 des Gesetzes über die zivile Luftfahrt [Gesetz über die zivile Luftfahrt v. 31.7.1963 (GBl. DDR Ⅰ 1963, S. 113)] hatte die DDR die uneingeschränkte Souveränität über den Luftraum ihres Hoheitsgebietes für sich in Anspruch genommen.
2. Festlandsockel
5 a) Das Problem des Festlandsockels (Kontintentalschelfs) ist neueren Datums. Es entstand, nachdem unter dem Meeresgrund Naturschätze entdeckt und die technischen Möglichkeiten entwickelt worden waren, diese zu gewinnen. Es tauchte die Frage auf, in welchem Umfange den an das offene Meer angrenzenden Staaten der Abbau der Naturschätze erlaubt ist, weil die Gebietsherrschaft sich nur bis zu einer gewissen Entfernung von der Küste in das offene Meer hinein erstreckt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gaben eine Reihe von Staaten, beginnend die USA, einseitige Erklärungen ab, denen zufolge sie das Recht zur Gewinnung von Naturschätzen unter dem Meeresboden für sich in Anspruch nahmen. Auf der Genfer Seerechtskonferenz von 1958 wurde eine Konvention über den Festlandsockel beschlossen. Obwohl diese Konvention noch nicht in Kraft getreten ist, weil sie noch nicht von einer genügenden Anzahl von Staaten ratifiziert wurde, werden die in ihr enthaltenen Grundsätze allgemein anerkannt. Danach ist unter dem Festlandsockel der Meeresgrund und Meeresuntergrund in den unterseeischen Gebieten, die an die Küste angrenzen, aber außerhalb der Territorialgewässer liegen, bis zu einer Tiefe von 200 m oder außerhalb dieser Grenze, soweit die Meerestiefe eine Ausbeutung der Naturreichtümer der betreffenden Gebiete zuläßt, zu verstehen. Die Abgrenzung des Festlandsockels im Verhältnis zu anderen Staaten hat grundsätzlich (d. h. Ausnahmen sind möglich) so zu erfolgen, daß die Grenze von der Mittellinie gebildet wird, die in jedem Punkte gleich weit von den nächsten Punkten auf den Basislinien entfernt liegt, von denen aus die Breite der Territorialgewässer eines jeden der Staaten gemessen wird. Im übrigen bleibt der Grundsatz der Freiheit des offenen Meeres und des darüber liegenden Luftraumes gewahrt.
6 b) Mit Proklamation vom 26.5.1964 [Proklamation der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik über den Festlandsockel an der Ostseeküste der Deutschen Demokratischen Republik v. 26.5.1964 (GBl. DDR Ⅰ 1964, S. 99)] nahm die Regierung der DDR den Festlandsockel an der Ostseeküste in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention über den Festlandsockel für sich in Anspruch und erklärte, daß für alle Maßnahmen zur Erforschung und Nutzung ihres Festlandsockels eine ausdrückliche Zustimmung der zuständigen Behörden der DDR notwendig sei. Zugleich erklärte sie ihre Bereitschaft zu zwischenstaatlichen Vereinbarungen über die Abgrenzung des Festlandsockels der DDR gegenüber dem Festlandsockel benachbarter Staaten an der Ostsee. Eine Deklaration über die Abgrenzung und Nutzung des Festlandsockels der Ostsee kam am 23.10.1968 zwischen der UdSSR, der Volksrepublik Polen und der DDR zustande (Außenpolitische Korrespondenz vom 11.11.1968, S. 373). Mit dem Königreich Schweden wurde am 22.6.1978 ein Vertrag über die Abgrenzung des Festlandsockels abgeschlossen [Bekanntmachung zum Vertrag v. 22.6.1978 zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und dem Königreich Schweden über die Abgrenzung des Festlandsockels v. 15.1.1979 (GBl. DDR ⅠⅠ 1979, S. 38)]. Zur Sicherung und Wahrnehmung der mit der Proklamation vom 26.5.1964 begründeten Rechte erging das Gesetz über die Erforschung, Ausbeutung und Abgrenzung des Festlandsockels der Deutschen Demokratischen Republik vom 20.2.1967 [Gesetz über die Erforschung, Ausbeutung und Abgrenzung des Festlandsockels der Deutschen Demokratischen Republik v. 20.2.1967 (GBl. DDR Ⅰ 1967, S. 5)]. Darin wurden die Naturreichtümer des Festlandsockels der DDR zu Eigentum des Volkes erklärt (s. Erl. zu Art. 12) und ihre Erforschung und Nutzung ausschließlich den innerstaatlichen Bestimmungen der DDR unterstellt und von einer besonderen Genehmigung durch die zuständigen zentralen Behörden abhängig gemacht. In der Begriffsbestimmung des Festlandsockels und hinsichtlich der Abgrenzung zu den Festlandsockeln anderer Staaten folgt das Gesetz der Genfer Konvention, wobei anderweitige vertragliche Abmachungen nicht ausgeschlossen werden. Der Schutz der Hoheitsrechte der DDR an den Naturreichtümern des Festlandsockels und der zu seiner Erforschung und Ausbeutung außerhalb der Territorialgewässer errichteten Anlagen wurde dem zuständigen Staatsorgan der DDR übertragen.
3. Zugangsverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West)
7 Die Gebietsherrschaft der DDR ist in bezug auf den Verkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) zu Lande, zu Wasser und in der Luft beschränkt in dem Sinne, daß ihr die Pflicht auferlegt ist, diesen Verkehr auf dem bzw. über dem Gebiet der DDR zu dulden. Von seiten der DDR-Behörden und nach Ansicht der DDR-Juristen (Günter Görner) wird freilich die Pflicht zur Duldung des Zugangsverkehrs bestritten und diese als ein Entgegenkommen bezeichnet. Indessen beruht der Verkehr von und nach Berlin auf alliierten Rechten (Alois Riklin). Diese sind wegen des Schwebezustandes, in dem sich Deutschland seit 1945 befindet (s. Rz. 67-69 zu Art. 1), nicht erloschen. Auch die DDR-Behörden sind an die Abmachungen der Alliierten gebunden. Diese haben keine völkerrechtlich unzulässige Last zugunsten eines Dritten (der DDR) zum Inhalt, sondern stellen eine Art internationales Servitut auf dem Territorium dar, das die DDR als ihr Staatsgebiet betrachtet (Dieter Schröder, Die Bedeutung der Berliner Rechte der Alliierten ..., S.17). Dieses internationale Servitut wurde durch das Jessup-Malik-Abkommen und die Schlußerklärung der Pariser Außenministerkonferenz bestätigt. Diese Abkommen werden jetzt durch Abschnitt II A und Anlage 1 des Viermächteabkommens vom 3.9.1971 (Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 174 vom 15.9.1972, S. 50) überdeckt, sind jedoch als potentiell geltendes Völkerrecht in Kraft geblieben (Ernst R. Zivier, Der Rechtsstatus des Landes Berlin, S. 239). Die Einzelregelungen ergeben sich aus dem Transitabkommen, das zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR am 17.12.1971 (Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 174 vom 15.9.1972, S. 7) abgeschlossen, mit seinen Begleitdokumenten in das Schlußprotokoll zum Viermächteabkommen aufgenommen und damit von der Regierung der Sowjetunion einerseits und den drei Westmächten (Vereinigte Staaten von Amerika, Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland sowie Französische Republik) andererseits sanktioniert und garantiert worden ist. Das Land Berlin ist nicht Partner des Transitabkommens. Die Rechtswirkung des Abkommens erstreckt sich durch den Abschluß durch die Bundesrepublik Deutschland und seine Sanktionierung durch die vier Mächte auf die Berliner Westsektoren (Ernst R. Zivier, a.a.O., S. 238). Die DDR hat in ihrer Gesetzgebung den Bestimmungen des Transitvertrages Rechnung getragen [Anordnung über die Benutzung von Verkehrswegen im Durchreiseverkehr vom 16.12.1966 (GBl. DDR ⅠⅠ 1966, S. 1217) in der Fassung der Anordnung Nr. 11 über die Benutzung von Verkehrswegen im Durchreiseverkehr vom 22.3.1979 (GBl. DDR Ⅰ 1979, S. 74); Anordnung Nr. 12 über die Benutzung von Verkehrswegen im Durchreiseverkehr v. 24.6.1981 (GBl. DDR Ⅰ 1981, S. 271)].
4. Hervorhebung der Staatsorgane in Abs. 1
8 Wenn Art. 7 Abs. 1 den Staatsorganen die Pflicht auferlegt, die territoriale Integritat und die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen zu gewährleisten, so fällt auf, daß diese Pflicht nicht der DDR schlechthin auferlegt wird, obwohl dieser in Art. 7 Abs. 2 die Pflicht zur Organisation der Landesverteidigung aufgegeben ist. Offensichtlich soll den Staatsorganen in besonderem Maße die Erfüllung der Schutzfunktion nach außen zur Pflicht gemacht werden, ohne daß deshalb die gesellschaftlichen Organe aus dieser Pflicht entlassen wären. Dafür spricht auch die Reihenfolge, in der die Sätze des Art. 7 stehen. Folgte diese der Logik, so müßte Art. 7 Abs. 2 Satz 1 über der Organisation der Landesverteidigung und dem Schutz der inneren Ordnung als Obersatz an erster Stelle stehen, und die Sätze über die Pflichten der Staatsorgane und die speziellen Aufgaben der NVA müßten sich daran anschließen. Ursächlich für die unlogische Reihenfolge ist offenbar die nachträgliche Einfügung des Abs. 1, gekoppelt mit dem Bestreben, die territoriale Integrität und die Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen besonders hervorzuheben.
5. Einfache Gesetzgebung zum Schutz des Staatsgebietes
9 Einfache Gesetzgebung zum Schutz des Staatsgebietes. Schon vor Erlaß der Verfassung von 1968 waren die Staatsorgane ihrer Pflicht zur Gewährleistung der Unantastbarkeit des Staatsgebietes mit einer Reihe gesetzlicher Bestimmungen nachgekommen. Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Das Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (Grenzgesetz) v. 25.3.1982 (GBl. DDR Ⅰ 1982, S. 197) ersetzte die Verordnung zum Schutze der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik v. 19.3.1964 (GBl. DDR ⅠⅠ 1964, S. 255) (Einzelheiten in ROW 4/1982, S. 165). Damit erhielt auch der Schießbefehl im Falle eines “Grenzdurchbruchs“ der Form nach eine gesetzliche Grundlage. Der Mangel an ihr (s. Art. 7 Rz. 11) war damit geheilt, nicht jedoch der Verstoß gegen das Übermaßverbot.
11 Die Anwendung der Schußwaffe war in § 56 Abs. 3 Grenzordnung 1964 ausdrücklich »nur« nach den »entsprechenden militärischen Bestimmungen« der NVA für zulässig erklärt worden. In der Grenzordnung 1972 fehlt eine entsprechende Bestimmung. Sie war überflüssig, weil die Grenztruppen ohnehin Teil der NVA sind (s. Rz. 31 zu Art. 7) und für sie daher die »militärischen Bestimmungen« ohne weiteres gelten. Diese sind in der Geheimhaltung unterliegenden Dienstvorschriften (DV) enthalten. Einschlägig ist zunächst die »Schußwaffengebrauchsbestimmung für die Wachen, Posten und Streifen der Nationalen Volksarmee« (DV - 10/4) von 1963 (v. Münch, Dokumente ..., S. 422). Nach deren Ziffer 314 lit. d darf von der Schußwaffe u.a. auf eigenen Entschluß durch Wachen, Posten und Streifen sowie andere zeitweilige und ständige Waffenträger Gebrauch gemacht werden, wenn andere Mittel nicht oder nicht mehr ausreichen, um Handlungen, die eindeutig auf Verrat an der Arbeiter-und-Bauern-Macht gerichtet sind, zu unterbinden. Nach Ziffer 318 darf dann ohne Anruf und ohne Abgabe eines Warnschusses von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden, wenn es zur Abwehr eines plötzlichen tätlichen Angriffs, der mit anderen Mitteln nicht abgewendet werden kann, sowie zur Brechung bewaffneten Widerstandes erforderlich ist oder eine unmittelbare Gefahr für das Leben anderer Personen, das eigene Leben sowie andere staatliche, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Einrichtungen eintreten würde und die Gefahr mit anderen Mitteln nicht abgewendet werden kann. Unter diesen Bedingungen soll von der Schußwaffe möglichst nur so Gebrauch gemacht werden, daß die betreffende Person nur in ihrer Bewegungsfreiheit behindert wird und vorläufig festgenommen werden kann. Diese strengen Bestimmungen sind für den Grenzbereich verschärft. Nach Ziffer 319 haben die Wachen und Grenzposten der Grenztruppen der NVA an der Staatsgrenze zu Westdeutschland und Westberlin in Erweiterung der Bestimmungen die Schußwaffen bei der Grenzsicherung auf der Grundlage der Festlegungen der DV - 30/10, Ziffer 114-124, anzuwenden. Die DV 30/10 unterliegt einem besonderen Geheimhaltungsgrad. Über ihren Inhalt werden die unteren Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten nur mündlich belehrt. Aus den Aussagen geflüchteter Angehöriger der Grenztruppen ergibt sich, daß Fluchtversuche mit allen Mitteln zu verhindern sind und auf Flüchtende, die die Grenzabsperrungen bereits erreicht haben, ohne Warnschuß zu schießen ist. Die Bestimmungen über den Schußwaffengebrauch durch die Grenztruppen der NVA widersprechen Art. 30 Abs. 2 Satz 1, der Einschränkungen der Unantastbarkeit der Persönlichkeit nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes, nicht aber aufgrund einer Anordnung eines Ministers zuläßt (s. Rz. 10 und 35 zu Art. 30). Der Schießbefehl widerspricht ferner dem Übermaßverbot, das Art. 30 Abs. 2 Satz 2 für Einschränkungen der Unantastbarkeit der Persönlichkeit gebietet (s. Rz. 15 zu Art. 30), weil er eine Pflicht zum Schießen ohne Warnung auferlegt und damit das Menschenleben niedriger einschätzt als die strikte Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit im Grenzgebiet. Ob der Schußwaffengebrauch an der Demarkationslinie nach dem Recht der Bundesrepublik strafbar ist, ist strittig (vgl. die sich an das Urteil des LG Stuttgart vom 11.10.1963 - NJW 1964, S. 63, JZ 1964, S. 101 - anschließende Kontroverse zwischen Karl Doehring, Gerald Grünwald, Hans Dichgans, Walther Rosenthal, Gustav Mützeiburg; dazu auch: Ernst Wilhelm Bök-kenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, S. 94). In der DDR wird die Bestrafung des Schußwaffengebrauchs durch Gerichte der Bundesrepublik als völkerrechtswidrig angesehen (Friedrich Kaul/Bernhard Graefrath, Völkerrechtswidrige Intervention ...).
12 Die örtlichen Räte werden nach § 3 VO zum Schutze der Staatsgrenze der DDR dafür verantwortlich gemacht, daß der Verlauf der Staatsgrenze, der Grenzgebiete und eingerichteten Schutzstreifen sowie deren Zugangsstraßen (Wege) entsprechend den Forderungen der bewaffneten Organe sichtbar gekennzeichnet werden. Die Staatsgrenze der DDR darf nur mit gültigen Dokumenten über die geöffneten Grenzübergangsstellen (Kontrollpas-sierpunkte) oder an anderen Stellen, die in zwischenstaatlichen Vereinbarungen für besondere Fälle festgelegt werden, passiert werden. Der Ministerrat entscheidet darüber, welche Grenzübergangsstellen zu öffnen oder zu schließen sind. Der Minister für Nationale Verteidigung kann im Interesse der Sicherheit der DDR und ihrer Bürger die zeitweilige Schließung von Grenzübergangsstellen anordnen (§ 4 VO). In § 5 VO werden die Bürger der DDR verpflichtet, die Schutz-, die Sicherheits- und die anderen staatlichen Organe bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Durchsetzung der festgelegten Ordnungen für die Grenzgebiete zu unterstützen und Personen, die sich unberechtigt im Grenzgebiet aufhalten oder gegen die Grenzordnung verstoßen, sofort den zuständigen Dienststellen der Grenztruppen der NVA oder der Deutschen Volkspolizei zu melden.
14 Seit dem 12.6.1968 gilt im Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Teilen und im Transitverkehr von und nach Berlin (West) der Paß- und Visumzwang [Fünfte Durchführungsbestimmung zum Paß-Gesetz der Deutschen Demokratischen Republik v. 11.6.1968 (GBl. DDR ⅠⅠ 1963, S. 331)]. Für »Bürger der selbständigen politischen Einheit Westberlin« genügt der Personalausweis. Das Visum wird an der Grenzübergangsstelle erteilt, für die Einreise in die DDR gegen die Vorlage eines Berechtigungsscheines, der vom Rat des Kreises ausgestellt wird, in dem das Ziel der Reise liegt. Deutschen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik kann indessen die Einreise in die DDR untersagt werden, wenn sie »als Hauptverantwortliche die völkerrechtswidrige, annexionistische Politik der Alleinverantwortungsanmaßung verfechten oder maßgeblich fördern«. Die Einreise in die DDR kann auch solchen Deutschen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik verweigert oder mit Beschränkungen verbunden werden, »die durch ihre Handlungen westdeutsche gesetzliche Bestimmungen gegen Bürger der Deutschen Demokratischen Republik anwenden« [Vierte Durchführungsbestimmung zum Paß-Gesetz der Deutschen Demokratischen Republik v. 1.12.1966 (GBl. DDR ⅠⅠ 1966, S. 855)]. Pässe der Bundesrepublik Deutschland, die für West-Berliner ausgestellt sind, werden von den Behörden der DDR nicht anerkannt. Nach der Anordnung über Einreisen von Bürgern dder BRD in die DDR vom 17.10.1972 (GBl. DDR ⅠⅠ 1972, S. 654) in der Fassung der Anordnung Nr. 2 über Einreisen von Bürgern der BRD in die DDR v. 14.6.1973 (GBl. DDR Ⅰ 1973, S. 269) kann Bürgern der Bundesrepublik Deutschland auf Einladung ihrer in der DDR wohnhaften Verwandten und Bekannten aus privaten Gründen oder auf Einladung der zuständigen Organe der DDR aus kommerziellen, kulturellen, sportlichen oder religiösen Gründen die Einreise in die DDR einmal oder mehrmals bis zu einer Dauer von insgesamt 30 Tagen im Jahr gestattet werden. Die Aufenthaltserlaubnis wird in der Regel für das gesamte Gebiet der DDR erteilt. Auch Touristenreisen in die DDR sowie Tagesaufenthalte von Deutschen, die in festgelegten grenznahen Kreisen der Bundesrepublik Deutschland wohnen, in festgelegte grenznahe Kreise der DDR können erlaubt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Einreise mit dem Personenkraftwagen gestattet werden. Bürgern der DDR kann nach der Anordnung über Regelungen im Reiseverkehr von Bürgern der DDR v. 17.10.1972 (GBl. DDR ⅠⅠ 1972, S. 653) in der Fassung der Anordnung Nr. 2 über Regelungen im Reiseverkehr von Bürgern der DDR v. 14.6.1973 (GBl. DDR Ⅰ 1973, S. 269) auf Einladung von Verwandten die Ausreise in nichtsozialistische Staaten, die die Reisedokumente der DDR anerkennen, darunter auch in die Bundesrepublik Deutschland und nach Berlin (West), in dringenden Familienangelegenheiten genehmigt werden. Ferner kann Bürgern der DDR, die das Rentenalter erreicht haben oder Invaliden sind, ein Verwandtenbesuch ins nichtsozialistische Ausland einmal oder mehrmals bis zu einer Dauer von 30 Tagen - bei Reisen in Staaten außerhalb Europas bis zu 3 Monaten - im Jahr gestattet werden. Ein Rechtsanspruch auf Erteilung eines Berechtigungsscheins oder einer Ausreisegenehmigung besteht in keinem Fall. Jedoch hat der Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten seit der Neuregelung eine beträchtliche Zunahme erfahren. Wegen des Rechts auf Freizügigkeit innerhalb Deutschlands s. Rz. 1-13 zu Art. 32. Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Seit dem 15.2.1985 galt unter Außerkraftsetzung zahlreicher Bestimmungen für den Transitverkehr durch die ehemalige DDR die Anordnung über die Benutzung von Verkehrswegen im Transitverkehr durch das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik - Transit-Anordnung - v. 8.1.1985 (GBl. DDR Ⅰ 1985, S. 11) (Einzelheiten in ROW 3/1985, S. 144).
17 e) Luftverkehr. Nach §45 des Gesetzes über die zivile Luftfahrt vom 31.7.1963 [Gesetz über die zivile Luftfahrt v. 31.7.1963 (GBl. DDR Ⅰ 1963, S. 113)] dürfen Luftfahrzeuge die Grenzen der DDR nur mit staatlicher Genehmigung überfliegen. Die Luftfahrzeuge anderer Staaten, die in das Hoheitsgebiet der DDR einfliegen, müssen ohne Zwischenlandung auf dem ihnen zugewiesenen internationalen Flughafen landen. Die zuständigen staatlichen Organe können Landungen auf anderen Flughäfen genehmigen. Die Einrichtung zwischenstaatlicher Fluglinien bedarf der Genehmigung. Da die alliierten Abkommen über den Luftverkehr zwischen Westdeutschland und Berlin (West) (Alois Riklin, Das Berlin-Problem, S. 262; Dokumente, S. 38) die von der DDR gesetzten Rechtsnormen überlagern, bleibt dieser Verkehr von den Bestimmungen des Gesetzes über die zivile Luftfahrt unberührt (s. Rz. 7 zu Art. 7). Nach dem damaligen Außenminister der DDR und Mitglied des ZK der SED, Otto Winzer (Diskussionsbeitrag auf der 10. Tagung des ZK der SED vom 23.-25.6.1965, Tribüne vom 25.6.1965), ist die Luftsicherheitszentrale nur zur technischen Abwicklung des Flugverkehrs in den drei Luftstraßen von und nach Berlin zuständig. Sie hat keinerlei Entscheidungsbefugnis über den Luftraum der DDR und deren Hauptstadt Berlin. Der Verkehr über den Ostberliner Flughafen Schönefeld wird ohne die alliierte Luftfahrtzentrale abgewickelt.
20 Art. 7 Abs. 1 Satz 1, 1. Teil hat seinen Vorläufer in Art. 112 Abs. 2 der Verfassung von 1949: »Der Republik obliegt die Gesetzgebung über den militärischen Schutz der Heimat und über den Schutz der Zivilbevölkerung.« Dieser war durch § 2 Gesetz zur Ergänzung der Verfassung vom 26.9.1955 [Gesetz zur Ergänzung der Verfassung v. 26.9.1955 (GBl. DDR Ⅰ 1955, S. 653)] in die Verfassung eingefügt worden. Art. 112 der Verfassung von 1949 legte die Sachgebiete fest, auf denen der Republik die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zustand. Der Abs. 2 wurde zu einer Zeit eingefügt, als wegen der Abschaffung der Länder (s. Rz. 47 zur Präambel) jede Kompetenz zur Gesetzgebung schon allein den Organen des Einheitsstaates zustand. Unter diesen Umständen konnte in Art. 112 Abs. 2 der Verfassung von 1949 die Kompetenzzuweisung an die Republik nur den Auftrag bedeuten, von ihr auch Gebrauch zu machen.
2. Auftrag an die politische Organisation
21 In Art. 7 Abs. 1 Satz 1, 1. Teil liegt freilich mehr als nur eine Kompetenzzuweisung für die Gesetzgebung auf dem Gebiete der Landesverteidigung und ein diesbezüglicher Auftrag. Der Auftrag ist allgemein gehalten und bezieht sich auf alle Tätigkeiten des Staates. Die DDR ist hier als politische Organisation der sozialistischen Gesellschaft (s. Rz. 25, 26 zu Art. 1) zu begreifen. Sonst wäre die Organisation der Landesverteidigung nur den Staatsorganen übertragen worden. So hieß es schon im Parteiprogramm der SED von 1963: »Die Arbeiter-und-Bauern-Macht hat die Aufgabe, den zuverlässigen Schutz der Freiheit der Bürger und ihrer demokratischen und sozialistischen Errungenschaften zu gewährleisten und den umfassenden Aufbau des Sozialismus vor allen feindlichen Anschlägen zu sichern. Die imperialistische atomare Aufrüstung, die Existenz des gefährlichen Kriegsherdes Westdeutschland sowie die imperialistischen Provokationen an der Staatsgrenze zwingen zur ständigen Bereitschaft, unsere sozialistische Heimat mit der Waffe zu schützen und jeden imperialistischen Anschlag im Keime zu erstik-ken. Es ist notwendig, daß alle Bürger eine hohe Wachsamkeit entwickeln, damit sie gemeinsam mit den bewaffneten Kräften des Staates, den Organen des Ministeriums für Staatssicherheit und den Kampfgruppen der Arbeiterklasse auch weiterhin den sozialistischen Aufbau, die Freiheit, das Leben und das Eigentum der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik zuverlässig schützen.« Im Parteiprogramm von 1976 (S. 88) heißt es: »Das von den herrschenden imperialistischen Kreisen forcierte Wettrüsten ist eine ständige Gefährdung des Weltfriedens. Es verschlingt riesige Mittel, die zum Nutzen der Völker eingesetzt werden könnten. Die Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit erfordert auch von der Deutschen Demokratischen Republik die weitere Stärkung der Verteidigungsbereitschaft.«
3. Bildung des Nationalen Verteidigungsrates
22 Mit der Bildung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik am 10.2.1960 [Gesetz über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik v. 10.2.1960 (GBl. DDR Ⅰ 1960, S. 89); Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik v. 19.11.1964 (GBl. DDR Ⅰ 1964, S. 139)] wurde die Organisation der Verteidigung zwar nicht eingeleitet - die ersten Maßnahmen zu einer Aufrüstung wurden schon viel früher getroffen (s. Rz. 31, 32 zu Art. 7) aber sie fand damit eine organisatorische Spitze. Ihm wurde die Aufgabe übertragen, »den Schutz des Arbeiter-und-Bauern-Staates und der sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen zu organisieren und zu sichern sowie die sich daraus ergebenden Maßnahmen festzulegen«. (Einzelheiten zum Nationalen Verteidigungsrat s. Erl. zu Art. 73; zu den Kompetenzen des Ministerrates auf dem Gebiete der Verteidigung s. Erl. zu Art. 76).
24 a) Im Verteidigungsgesetz von 1961 war die DDR als der »erste Arbeiter-und-Bauern-Staat in der Geschichte Deutschlands«, der den gesellschaftlichen Fortschritt verkörpere und der Repräsentant der deutschen Nation sei, bezeichnet und so zum Objekt der Verteidigung gemacht worden. Im Verteidigungsgesetz von 1978 fehlt eine ausdrückliche Bezeichnung des Objekts der Verteidigung und damit auch jede Bezugnahme auf die Nation - zweifellos eine Folge der Tilgung des Begriffs der deutschen Nation aus der Verfassung (s. Rz. 56 zu Art. 1). Dafür wird eine Beziehung zwischen der Landesverteidigung und der in der DDR ausgeübten politischen Macht (Art. 1 und 2 der Verfassung) hergestellt. Es heißt in § 1 Abs. 1: »Die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik beruht auf der von der Arbeiterklasse ausgeübten politischen Macht, die sie unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei im Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, mit der Intelligenz und den anderen Werktätigen verwirklicht.« Mittelbar wird aus dieser Formulierung erkennbar, daß Landesverteidigung der DDR stets auch als Verteidigung ihres politischen Systems aufgefaßt wird. Erhärtet wird diese Ansicht durch § 1 Abs. 2, der von der »festen Grundlage« der Landesverteidigung handelt. Als solche wird an erster Stelle »die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung« genannt. Um die Annahme zu vermeiden, daß hier ein Pleonasmus vorliegt, kann davon ausgegangen werden, daß in § 1 Abs. 1 mittelbar das Objekt der Landesverteidigung beschrieben wird.
25 Nach § 1 Abs. 2 soll nicht nur die »sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung« feste Grundlage der Landesverteidigung sein, sondern auch »ihre wachsende politische und ökonomische Stärke«, ferner das »politische Bewußtsein der Bürger« und »ihre Bereitschaft zum Schutz und zur Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften«. Die Verteidigungsbereitschaft soll bei »umfassender Nutzung der Vorzüge und Triebkräfte der sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik durch die erforderlichen Maßnahmen auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gewährleistet« werden. Das Verteidigungsgesetz von 1961 nahm lediglich auf den Warschauer Pakt (s. Rz. 33 zu Art. 6) Bezug. Das Verteidigungsgesetz von 1978 stellt als Folge der seitdem eingetretenen Entwicklung fest (§ 1 Abs. 3 Satz 1), die Landesverteidigung erfolge »in Übereinstimmung mit dem Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung entsprechend Artikel 51 der Charta der Vereinigten Nationen, dem darauf beruhenden Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand vom 14. Mai 1955 und den Verträgen über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und anderen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft«.
Leitung der Landesverteidigung
26 b) Dem Nationalen Verteidigungsrat der DDR obliegt »auf der Grundlage und in Durchführung der Gesetze und Beschlüsse der Volkskammer sowie der Beschlüsse des Staatsrates die zentrale Leitung der Verteidigungs- und Sicherheitsmaßnahmen« (§ 2 Abs. 1 Verteidigungsgesetz). (Wegen seiner Kompetenzen s. Rz. 17-22 zu Art. 73.)
27 c) Das Verteidigungsgesetz enthält Bestimmungen, die der Sicherstellung der Verteidigung dienen, und solche, die nur während des Verteidigungszustandes, der Mobilmachung und für Übungen gelten. Wegen der letzteren s. Rz. 4 ff. zu Art. 52. Generell sind alle staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe, Kombinate, Betriebe und Einrichtungen, Genossenschaften, gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen verpflichtet, die ihnen von den zuständigen Organen übertragenen Verteidigungsaufgaben vorzubereiten und durchzuführen. Deren Leiter werden persönlich für die allseitige Erfüllung der Aufgaben der Landesverteidigung in ihrem Verantwortungsbereich verantwortlich gemacht. Sie sollen sich dabei auf die unmittelbare Teilnahme der Bürger stützen. Wie letzteres geschehen soll, wird freilich nicht festgelegt.
28 Die Volkswirtschaft soll so geleitet und geplant werden, daß die Landesverteidigung jederzeit ökonomisch sichergestellt ist. Die Minister und die Leiter der anderen zentralen Staatsorgane sowie die Vorsitzenden der örtlichen Räte haben auf der Grundlage zentral getroffener Festlegungen die Umstellung der Volkswirtschaft auf die Erfordernisse des Verteidigungszustandes vorzubereiten und auf entsprechende Weisung durchzuführen. Die ökonomische Sicherstellung der Landesverteidigung muß auf der Grundlage der Pläne durch Lieferungen und Leistungen zur a) Deckung des Bedarfs der Nationalen Volksarmee, der anderen bewaffneten Organe und Zivilverteidigung, b) Gewährleistung anderer verteidigungswichtiger Maßnahmen und c) Bildung von Reserven erfolgen. Zur Vorbereitung von Leistungen, die im Verteidigungszustand und bei Übungen von staatlichen oder wirtschaftsleitenden Organen, Kombinaten, Betrieben, Einrichtungen und Genossenschaften und im Verteidigungszustand auch von gesellschaftlichen Organisationen, Vereinigungen oder Bürgern gefordert werden können, darunter die Überlassung von beweglichen Gegenständen, Grundstücken und Gebäuden (Sachen), können jederzeit notwendige Auskünfte gefordert und Auflagen erteilt werden, die sichern, daß sich die Sachen im Falle ihrer Übergabe in dem verlangten Zustand befinden. Volkseigene Grundstücke, die für die Landesverteidigung benötigt werden, können in Rechtsträgerschaft des Ministeriums für Nationale Verteidigung bzw. anderer Organe übergeführt werden. Nichtvolkseigene Grundstücke und Gebäude, die für die Landesverteidigung benötigt werden, sind grundsätzlich durch Kauf zu erwerben. Ist das nicht möglich, sind sie gegen Entschädigung in Volkseigentum zu überfuhren.
30 Der Schutz der sozialistischen Errungenschaften des Volkes nach außen wird in Art. 7 Abs. 2 Satz 2 als Aufgabe der NVA und der anderen bewaffneten Organe der Landesverteidigung bezeichnet. Unter den sozialistischen Errungenschaften des Volkes ist die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung mit allen ihren Folgen für den einzelnen zu verstehen, die in der Sicht des Verfassungsgebers für ihn nur positive sind. Die NVA ist nicht die einzige Institution der Verteidigung nach außen. Genannt werden auch »die anderen Organe der Landesverteidigung«. Diese sind die Kampfgruppen der SED (s. Rz. 40-43 zu Art. 7) und die Deutsche Volkspolizei (DVP), deren Aufgabe nicht allein der Schutz der inneren Ordnung und Sicherheit ist (s. Rz. 59 zu Art. 7).
2. Aufrüstung in der DDR
31 Militärähnliche Verbände wurden bereits vor Gründung der DDR aufgestellt. Sie gingen in einem bei heimlichen Aufrüstungen nicht seltenen Verfahren aus der Polizei hervor. Die ersten militärähnlichen Verbände waren die Mitte 1947 auf Befehl der SMAD gebildeten Grenzeinheiten, zu denen die im Jahre 1946 aufgestellte Grenzpolizei zusammengefaßt worden war. Die »Deutsche Grenzpolizei« wurde am 15.9.1961 als »Kommando Grenze« in die NVA eingegliedert, in der jetzt die »Grenztruppen der DDR« neben den Teilstreitkräften (s. Rz. 32 zu Art. 7) bestehen. Den wesentlichen Kern der NVA bildeten die im Rahmen der Deutschen Volkspolizei gebildeten kasernierten Verbände (KVP), die ab 3.7.1948 ebenfalls auf Befehl der SMAD aufgestellt worden waren und im Jahre 1950 bereits eine Gesamtstärke von etwa 70 000 Mann hatten. Im Jahre 1950 wurde mit dem Aufbau einer Marine, im März 1951 mit dem Aufbau einer Luftwaffe begonnen. Im Herbst 1952 war die KVP bereits 100 000 Mann stark. Mit der Gründung der DDR wurde die KVP, die bis dahin der Deutschen Verwaltung des Innern unterstanden hatte, dem Ministerium des Innern unterstellt. Am 30.6.1950 ging sie in die Zuständigkeit einer selbständigen »Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei« über. (Zur Geschichte der NVA vgl. insbesondere Helmut Bohn, Armee gegen die Freiheit ...; Rudolf Kabel, Die Militarisierung ...)
3. Schaffung der Nationalen Volksarmee
32 Die NVA wurde der Form nach durch Gesetz vom 18.1.1956 [Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung v. 18.1.1956 (GBl. DDR Ⅰ 1956, S. 81)] geschaffen, das gleichzeitig die Bildung eines Ministeriums für Nationale Verteidigung anordnete. Nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes besteht die NVA aus Land-, Luft- und Seestreitkräften, die für die Verteidigung der DDR notwendig sind. Die zahlenmäßige Stärke soll begrenzt werden entsprechend den Aufgaben zum Schutz des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik, der Verteidigung ihrer Grenzen und der Luftverteidigung. Genaue Angaben über die Stärke der NVA werden von den DDR-Behörden nicht gemacht. Man nimmt ihre Stärke jedoch mit 185 000 Mann an. Jedenfalls reichte sie aus, um Kontingente, wenn auch kleineren Umfangs, für die Invasion der CSSR durch fünf Warschauer-Pakt-Mächte abzustellen. Die NVA wird vom Ministerium für Nationale Verteidigung organisiert und »geleitet«. Es ist also oberste Kommandobehörde. Der Minister für Nationale Verteidigung ist militärischer Oberbefehlshaber. Der Hauptstab des Ministeriums führt die Landstreitkräfte. Die Luftstreitkräfte und die Seestreitkräfte haben eigene Kommandos. Es bestehen fünf, mit römischen Ziffern bezeichnete Militärbezirke: Militärbezirk I = Hauptstab; Militärbezirk II = Luftstreitkräfte/Luftverteidigung; Militärbezirk III und V = Landstreitkräfte; Militärbezirk IV = Volksmarine. Zur Rekrutierung bestehen in den Bezirken Wehrbezirkskommandos, in den Kreisen Wehrkreiskommandos. Die Wehrbezirkskommandos sind auch für die materiale Bedarfsdeckung zuständig.
4. Dienst zum Schutz des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen als ehrenvolle nationale Pflicht der Bürger
33 4. Durch § 3 Abs. 1 Verteidigungsgesetz [Gesetz über die Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Verteidigungsgesetz) v. 20.9.1961 (GBl. DDR Ⅰ 1961, S. 175)] wurde der Dienst zum Schutz des Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen zu einer »ehrenvollen nationalen Pflicht« der Bürger der DDR erklärt. Nach § 3 Abs. 2 a.a.O. umfaßt der Dienst zum Schutz der Republik und der Bevölkerung sowohl den Dienst in der NVA als auch in den »anderen bewaffneten Organen« (s. Rz. 40-77 zu Art. 7) sowie im Luftschutz, der seit 1970 zur Zivilverteidigung gehört (s. Rz. 48-55 zu Art. 7).
35 a) Im Parteiprogramm der SED von 1963 wurde die NVA als die »Armee des werktätigen Volkes« bezeichnet. Ihr festes Fundament soll die enge Verbindung mit der Arbeiterklasse und der Bauernschaft und allen anderen Werktätigen, mit der sozialistischen Ordnung sein. Im Parteiprogramm von 1976 werden die Aufgaben der NVA im Zusammenhang mit denen der anderen bewaffneten Organe (s. Rz. 40-77 zu Art. 7) charakterisiert: »Die Nationale Volksarmee, die Grenztruppen der DDR, die Organe des Ministeriums des Innern und des Ministeriums für Staatssicherheit und die Kräfte der Zivilverteidigung sowie die Kampfgruppen der Arbeiterklasse haben die Pflicht, stets eine hohe Kampfkraft und Gefechts- bzw. Einsatzbereitschaft zum Schutz des Sozialismus und des Friedens sowie zur Gewährleistung der territorialen Integrität, der Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen und der staatlichen Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik unter allen Bedingungen zu sichern. Die Landesverteidigung auf dem Niveau der moderen Anforderungen zu halten, erfordert eine hohe Qualität der marxistisch-leninistischen und militärischen Ausbildung der Angehörigen der Nationalen Volksarmee und der anderen bewaffneten Organe. Proletarischer Internationalismus und sozialistischer Patriotismus, Freundschaft mit der Sowjetunion, militärische Meisterschaft und eiserne Disziplin, Liebe zum werktätigen Volk und Treue zu den kommunistischen Idealen - das sind die wertvollsten Eigenschaften der Verteidiger des Friedens, des Sozialismus und Kommunismus. Die Stärke der bewaffneten Organe beruht vor allem auf der Führung durch die marxistisch-leninistische Partei. Daraus ergibt sich auch die wachsende Rolle der Parteiorganisationen in allen Bereichen der sozialistischen Landesverteidigung. Die führende Rolle der Partei und die unablässige Festigung der Verbundenheit der Nationalen Volksarmee und der anderen bewaffneten Organe mit der Arbeiterklasse und allen anderen Werktätigen sind das Unterpfand für die erfolgreiche Lösung aller Aufgaben zum Schutz des Friedens und des Sozialismus.«
36 b) So verwundert es nicht, daß die NVA, obwohl sie eine staatliche Einrichtung ist, zu einem Teil mit der SED verschmolzen ist. Neben der militärischen Kommandostruktur besteht in ihr nach sowjetischem Vorbild (Klaus Westen, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion..S. 230) eine politische Hierarchie. Ihre Grundlage bildet die Parteiorganisation der NVA, die nach Ziff. 68 des Statuts der SED nach besonderen, vom ZK bestätigten Instruktionen arbeitet. In den Einheiten der NVA bestehen Grundorganisationen wie in den Verwaltungen und Betrieben. Diese sind indessen nicht in die territoriale Organisation der SED eingefügt, sondern bilden eine eigene Organisation, innerhalb derer neben den Parteileitungen Politabteilungen existieren. Die Politabteilungen, deren Kern die Politoffiziere sind, unterstehen der Polithauptverwaltung der NVA. Deren Chef ist gleichzeitig der Erste Sekretär der SED-Parteiorganisation der NVA und Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung. Gehilfen der Politabteilungen sind alle Mitglieder und Kandidaten der SED in der NVA. Die Polithauptverwaltung wird von der Abteilung Sicherheit des ZK (s. Rz. 47 zu Art. 1) angeleitet. Im Politbüro der SED ist die Kommission für Nationale Sicherheit für diese Abteilung zuständig. Daneben besteht eine »FDJ-Organisa-tion in den bewaffneten Kräften« (Ziffer IX des Statuts der FDJ von 1963), die ebenfalls die Arbeit der Politoffiziere zu unterstützen hat. Die Polithauptverwaltung der NVA hat die Rechte einer Abteilung des ZK der SED und den Rang einer Bezirksparteileitung. In den Kommandos der See- und der Luftstreitkräfte sowie in den Militärbezirken bestehen Politische Verwaltungen. Deren Leiter sind die Stellvertreter der Kommandeure für die politische Arbeit. Die Politoffiziere in den Divisionen, den entsprechenden Einheiten der See- und Luftstreitkräfte, in den Regimentern, Bataillonen, Kompanien und selbständigen Einheiten sind die politischen Gehilfen der Kommandeure und in ihren Einheiten Vorgesetzte aller Soldaten bis auf den »Allgemeinen Vertreter des Kommandeurs«. Die Aufgabe der Politoffiziere besteht in der »politischen Massenarbeit«, im Politunterricht und der politischen Schulung der Offiziere. Sie sind also für die ideologische Indoktrination aller Angehörigen der NVA verantwortlich. Außerdem haben sie Entscheidungsbefugnis in allen Personalangelegenheiten und die Funktion, die Befehlsgebung und die Einhaltung von Befehlen im allgemeinen zu überwachen. (Einzelheiten vor allem bei Rudolf Kabel, Die Militarisierung ...). Ihre Machtfülle ist also beträchtlich. Sie gewährleisten in hohem Maße, daß aus der NVA nicht ein Staat im Staate wird, und verhindern, daß sie sich zum politischen Machtfaktor entwickeln kann.
7. Dienstlaufbahnordnung und Förderung entlassener Angehöriger der NVA
38 Die NVA verfügt über keinen eigenen inneren Sicherheitsdienst. Die Aufgaben eines solchen nehmen die Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit (s. Rz. 74-76 zu Art. 7) wahr.
40 Mit den Kampfgruppen der SED verfügt die DDR über eine milizähnliche Territorialarmee, die die NVA im Verteidigungsfalle wirksam entlasten kann.
41 a) Ihre Gründung geht auf die II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 zurück, auf der die Schaffung der Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus in der DDR verkündet wurde. Die Betriebsleitungen der volkseigenen Betriebe sollten mit der Deutschen Volkspolizei Verträge zum Schutz der Betriebe abschließen und dafür Belegschaftsmitglieder abstellen. Die ersten Kampfgruppen wurden im Frühjahr 1953 gebildet. Alle Mitglieder und Kandidaten der SED sollten eine militärische Ausbildung erhalten. Beim Volksaufstand am 17.6.1953 spielten die Kampfgruppen keine Rolle. Nach dessen Niederschlagung wurde die Bildung von Kampfgruppen forciert. Auch »parteiverbundene« Parteilose sollten sich anschließen. Die ursprünglich noch mangelhafte Bewaffnung wurde verbessert.
42 b) Mit dem Beschluß der 23. Tagung des ZK der SED vom 15.4.1955 »Über die Organisierung und Ausbildung der Kampfgruppen« wurde ihre Umwandlung in eine Territorialarmee eingeleitet. Ihnen gehören männliche Arbeiter und Angestellte im Alter vom 25. bis zum 60. Lebensjahr an. Über die Aufnahme entscheidet die Parteileitung des Betriebes, um ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit zu gewährleisten. Die Ausbildung von vier Stunden wöchentlich in der arbeitsfreien Zeit ist Sache der DVP, also nicht der NVA. Für die militärische Ausbildung und die politische Erziehung trägt der Sekretär der Parteiorganisation die Verantwortung. Im Juli 1957 wurde die überörtliche Organisation der Kampfgruppen eingeleitet. Es wurden Hundertschaften, Bataillone und Regimenter in Anlehnung an die Landstreitkräfte der NVA gebildet und die Milizformationen den regionalen Kommandos der NVA unterstellt. Der Mannschaftsbestand wurde verjüngt. Nur noch die Kampfgruppenreserven unterstehen den Parteileitungen in den Betrieben. Die militärische Ausrüstung umfaßt Granatwerfer, Panzerabwehrkanonen und schwere Maschinengewehre. Die Kampfgruppen unterstehen der Abteilung Sicherheit des ZK der SED und damit der Kommission für Nationale Sicherheit beim Politbüro der SED. Für die polizeiliche und militärische Ausbildung und Schulung ist die Hauptabteilung Deutsche Volkspolizei im Ministerium des Innern zuständig. Diese entscheidet auch über die personellen Führungsstellen der Kampfgruppen außerhalb der Betriebe. Kampfgruppen sind auch in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gebildet worden. Die Gesamtstärke der Kampfgruppen wird auf 400 000 Mann geschätzt.
43 c) Ihrer Entstehungsgeschichte nach war die Zielsetzung der Kampfgruppen zunächst auf den Schutz der Betriebe gerichtet. Mit der territorialen Organisierung wurde ihre Aufgabe auf die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit im Innern erweitert. Gleichzeitig bilden sie aber mit ihrer Bewaffnung und der Form ihrer Organisation eine Territorialarmee, die zur Landesverteidigung, insbesondere gegen einen angeblich befürchteten Angriff aus der Bundesrepublik, heranzuziehen ist. Auch ihrer Funktion wird in Art. 7 Abs. 2 Satz 2 eine verfassungsrechtliche Grundlage gegeben.
2. Gesellschaft für Sport und Technik
44 a) Der Organisation der Landesverteidigung dient in spezieller Aufgabenstellung die Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Sie wurde durch Verordnung vom 7. 8. 1952 als Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet [Verordnung über die Bildung der »Gesellschaft für Sport und Technik« v. 7.8.1952 (GBl. DDR 1952, S. 712)]. In ihren Statuten von 1957 und 1960 wird die GST als demokratische Massenorganisation bezeichnet, die auf freiwilliger Grundlage Jugendliche und Erwachsene beiderlei Geschlechts mit dem Ziel vereinigt, zur Festigung und Stärkung der Arbeiter-und-Bauern-Macht beizutragen [Beschluß über das Statut der Gesellschaft für Sport und Technik v. 21.2.1957 (GBl. DDR Ⅰ 1957, S. 172); Zweiter Beschluß über das Statut der Gesellschaft für Sport und Technik v. 28.7.1960 (GBl. DDR Ⅰ 1960, S. 445)]. Nach dem Statut von 1964 sieht die GST in der »sozialistischen Wehrerziehung« der Werktätigen und vor allem der Jugend ihre Hauptaufgabe. Durch ihre Tätigkeit hat sie die Vorbereitung der Jugend auf den Ehrendienst in der NVA zu unterstützen. Im Statut von 1964 heißt es: »Sie erfüllt ihre Aufgaben unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Bei der Lösung ihrer Aufgaben arbeitet sie eng mit allen in der Nationalen Front des demokratischen Deutschland vereinigten Parteien und Massenorganisationen sowie mit den staatlichen Organen zusammen.« [Beschluß über das Statut der Gesellschaft für Sport und Technik v. 27.5.1964 (GBl. DDR ⅠⅠ 1964, S. 553)]. Sie stellt also den Fall einer durch staatliche Organe gebildeten Massenorganisation dar.
45 b) In der Verordnung über die Gesellschaft für Sport und Technik vom 10.9.1968 [Verordnung über die Gesellschaft für Sport und Technik v. 10.9.1968 (GBl. DDR ⅠⅠ 1968, S. 779)] wurden ihre Aufgaben neu definiert. Ihre Hauptaufgabe im System der sozialistischen Wehrerziehung soll darin bestehen, »die Jugendlichen im vorwehrpflichtigen Alter auf den Wehrdienst in den bewaffneten Kräften der Deutschen Demokratischen Republik vorzubereiten«. Gleichzeitig wird sie zum Träger der wehrsportlichen Tätigkeit in der DDR erklärt. Ihre gesamte Tätigkeit soll »auf die hohen Anforderungen und komplizierten Aufgaben gerichtet« sein, »die an die Landesverteidigung, besonders an die Nationale Volksarmee, im Interesse der militärischen Sicherung des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft unter den Bedingungen der Revolution im Militärwesen und der verschärften Aggressivität des Imperialismus gestellt werden«. In der Bestimmung der Stellung der GST im politischen System wird die Formel der Satzung von 1964 insofern abgewandelt, als die Zusammenarbeit mit den bewaffneten Organen der DDR besonders hervorgehoben wird. Nach wie vor hat sie ihre Aufgaben unter der Führung der SED zu erfüllen. Die Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben der GST ist dem Ministerium für Nationale Verteidigung übertragen. Sie liegt also, anders als bei den Kampfgruppen, nicht bei der DVP.
46 c) Das Parteiprogramm der SED von 1963 versprach, daß die Partei auch in Zukunft der Entwicklung der Aufgaben der GST große Aufmerksamkeit widmen werde. Nach dem Parteiprogramm von 1976 (S. 89) soll der militärische Schutz des Sozialismus u. a. durch die Tätigkeit der GST gewährleistet werden.
48 a) Auf dem Gebiet der Zivilverteidigung war zunächst der Luftschutz durch Gesetz vom 11.2.1958 [Gesetz über den Luftschutz in der Deutschen Demokratischen Republik v. 12.1958 (GBl. DDR Ⅰ 1958, S. 121)] geregelt worden. Unter Aufhebung dieses Gesetzes erging am 16.9.1970 das Zivilverteidigungsgesetz [Gesetz über die Zivilverteidigung in der Deutschen Demokratischen Republik - Zivilverteidigungsgesetz - v. 16.9.1970 (GBl. DDR Ⅰ 1970, S. 289)]. Das Gesetz gab den schon seit geraumer Zeit getroffenen Maßnahmen der Partei- und Staatsführung auf dem Gebiet der Zivilverteidigung eine normative Grundlage. Es war ein Ermächtigungsgesetz, das die staatlichen Organe zu weitreichenden Eingriffen berechtigte, und enthielt deshalb auch keine Einzelheiten, deren Regelung den Durchführungsbestimmungen überlassen war. Mit ihm war die Möglichkeit geschaffen worden, die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung in den Dienst der Zivilverteidigung zu stellen. Die Zivilverteidigung wurde als untrennbarer Bestandteil der Landesverteidigung bezeichnet und als System staatlicher und gesellschaftlicher Maßnahmen betrachtet. Ihre Organisierung erforderte die Durchführung komplexer Aufgaben auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens (§ 1 Abs. 1 u. 2).
49 b) Mit Geltung vom 1.11.1978 sind die grundlegenden Bestimmungen über die Zivilverteidigung im Gesetz über die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Verteidigungsgesetz) vom 13.10.1978 [Gesetz über die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Landesverteidigungsgesetz) v. 13.10.1978 (GBl. DDR Ⅰ 1978, S. 377)] enthalten. Danach hat diese den Schutz der Bevölkerung, der Volkswirtschaft, der lebensnotwendigen Einrichtungen und der kulturellen Werte vor den Folgen von militärischen Aggressionshandlungen, insbesondere von Massenvernichtungsmitteln, sowie von Katastrophen zu organisieren. Sie hat die Vorbereitung und den Einsatz von Kräften zu Rettungs-, Bergungs- und unaufschiebbaren Instandsetzungsarbeiten zu gewährleisten sowie Maßnahmen durchzuführen, die der Aufrechterhaltung des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens dienen (§ 5 Abs. 1). Der Ministerrat beschließt in Durchführung der Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrates alle grundsätzlichen staatlichen Maßnahmen der Zivilverteidigung für die Erfüllung der genannten Aufgaben und hat deren Durchführung als Bestandteil der staatlichen Leitung und Planung zu sichern (§ 5 Abs. 2 Satz 1).
2. Organisation
50 Zunächst unterstand die Zivilverteidigung dem Minister des Innern. Mitte 1977 wurde sie dem Minister für Nationale Verteidigung unterstellt, ohne daß das Zivilverteidigungsgesetz geändert wurde. Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 des Verteidigungsgesetzes von 1978 führt der Minister für Nationale Verteidigung die Zivilverteidigung in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Landesverteidigung über den Leiter der Zivilverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik. Die Bedeutung des Leiters der Zivilverteidigung der DDR drückt sich dadurch aus, daß ihm die Rechtsetzungsbefugnis erteilt ist [Bekanntmachung über die Erteilung der Rechtsetzungsbefugnis an den Leiter der Zivilverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik v. 2.8.1979 (GBl. DDR Ⅰ 1979, S. 273)]. Leiter der Zivilverteidigung in ihrem Verantwortungsbereich sind die Minister (ausgenommen die der bewaffneten Organe), die Leiter der anderen zentralen Staatsorgane, die Vorsitzenden der örtlichen Räte, die Leiter der wirtschaftsleitenden Organe, Kombinate, Betriebe, Einrichtungen sowie die Vorsitzenden der Genossenschaften. Diese haben alle erforderlichen Maßnahmen zur Organisierung der Zivilverteidigung auf der Grundlage der Rechtsvorschriften und der Festlegungen des Vorsitzenden des Ministerrates, des Ministers für Nationale Verteidigung bzw. des Leiters der Zivilverteidigung der DDR zu treffen. Sie sollen dabei eine breite Einbeziehung der gesellschaftlichen Organisationen und der Bürger sichern (§ 5 Abs. 3). Im örtlichen Bereich besteht eine durchgehende Befehlsstruktur. Die Vorsitzenden der örtlichen Räte haben in ihrer Eigenschaft als Leiter der Zivilverteidigung des jeweiligen Territoriums das Recht, den Leitern der Zivilverteidigung der wirtschaftsleitenden Organe, Kombinate, Betriebe, Einrichtungen oder Genossenschaften sowie Bürgern auf der Grundlage und in Durchführung der Rechtsvorschriften und der Festlegungen des Vorsitzenden des Ministerrates, des Ministers für Nationale Verteidigung bzw. des Leiters der Zivilverteidigung der DDR Weisungen und Auflagen zur einheitlichen Vorbereitung und Durchführung der Aufgaben der Zivilverteidigung im Territorium zu erteilen (§ 5 Abs. 4).
3. Mitarbeit der Bevölkerung
51 Den Bürgern der DDR und ihren gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen wird die Pflicht, die gleichzeitig ein Recht sein soll, auferlegt, an der Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen der Zivilverteidigung, einschließlich zur Vorbeugung und Bekämpfung von Katastrophen und zur Beseitigung ihrer Folgen, »mitzuwirken«. Das schließt die Organisierung von Schutzmaßnahmen, die Teilnahme an der Ausbildung und an Übungen sowie an der Durchführung von Rettungs- und Hilfeleistungsmaßnahmen ein (§ 6 Abs. 1). Zur Lösung von Aufgaben der Zivilverteidigung kann eine Dienstpflicht eingeführt werden. Zum Dienst im Rahmen der Zivilverteidigung können Bürger vom vollendeten 16. Lebensjahr bis zum vollendeten 65. Lebensjahr (Frauen bis zum vollendeten 60. Lebensjahr) herangezogen werden (§ 6 Abs. 2). Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Für die Mitwirkung der Bevölkerung in der Zivilverteidigung erging die Anordnung über die Aus- und Weiterbildung der Bürger im Grundwissen über die Zivilverteidigung v. 3.8.1981 (GBl. DDR Ⅰ 1981, S. 325). Damit wurde ein weiterer Beitrag zur Militarisierung der ehemaligen DDR geleistet (Einzelheiten in ROW 1/1982, S. 29).
4. Hauptamtlich tätige Kräfte und Dienstlaufbahnordnung
54 b) Die Mitarbeit der Bevölkerung im Luftschutz sollte nach § 2 des Gesetzes über den Luftschutz freiwillig sein. Es wurde eine »Organisation freiwilliger Luftschutzhelfer« gebildet, die in ihren Reihen Bürger vereinigen soll, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und bereit sind, aktiv bei der Lösung der Aufgaben des Luftschutzes und damit an der Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit mitzuwirken [Verordnung über die Bildung der »Organisation freiwilliger Luftschutzhelfer« v. 11.2.1958 (GBl. DDR Ⅰ 1958, S. 124)]. Diese Organisation wurde überflüssig und in die Zivilverteidigung übergeführt.
6. Parteiprogramm
55 Nach dem Parteiprogramm der SED von 1976 (S. 89) haben auch die Kräfte der Zivilverteidigung eine hohe Einsatzbereitschaft zum Schutz des Sozialismus und des Friedens zu sichern (s. Rz. 35 zu Art. 7). (Wegen der Dienstgradbezeichnungen in der Zivilverteidigung s. Rz. 13 zu Art. 71).
VI. Der Schutz nach innen
56 Es entspricht dem Wesen der DDR als eines sozialistischen Staates, als der politischen Organisation der Werktätigen unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei (Art. 1 Abs. 1 Satz 2), daß die Landesverteidigung und der Schutz nach innen als Einheit betrachtet werden. Denn nach außen und nach innen ist in erster Linie derselbe Feind, der Klassenfeind, abzuwehren. Der Schutz nach innen umfaßt auch die öffentliche Ordnung, deren Störung nicht mit Klassenfeindschaft erklärt werden kann, sondern auf allgemein-menschlichem Fehlverhalten beruht. Trotzdem sind die Verfassungsaufträge zur Organisation der Landesverteidigung und zum Schutz der sozialistischen Ordnung und des friedlichen Lebens der Bürger zusammengefaßt in Art. 7 Abs. 2 Satz 1 normiert.
1. Die Deutsche Volkspolizei (DVP)
57 Organ der sozialistischen Staatsmacht zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist die Deutsche Volkspolizei (DVP).
Aufbau
58 a) Nach der Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland durch die Alliierten wurde in der SBZ die neue Polizei zuerst auf kommunaler Ebene aufgebaut. Im Dezember 1945 wurde sie durch die Länder zusammengefaßt, erhielt aber in der Deutschen Verwaltung des Innern eine zentrale Leitung. Nach der Bildung der DDR am 7. 10. 1949 ging deren Zuständigkeit auf das Ministerium des Innern über. Die Bezeichnung »Deutsche Volkspolizei« wurde bereits am 1.6.1945 eingeführt. Sie sollte verdeutlichen, daß die neue Polizei als Instrument der »antifaschistisch-demokratischen Ordnung« gedacht war, aus dem sie sich schließlich zum Instrument der sozialistischen Staatsmacht entwickelte.
Organisation
59 b) Die schon früh einheitlich geleitete DVP wurde nach der Abschaffung der Länder im Jahre 1952 (s. Rz. 3 zu Art. 81) zentral organisiert. Sie wurde nicht in die örtlichen Organe der Staatsmacht eingegliedert. Das Ministerium des Innern, in dessen Zuständigkeit die personelle Grundlage der NVA geschaffen wurde (s. Rz. 31 zu Art. 7), wurde später vorwiegend zum Polizeiministerium, dessen Leiter die Bezeichnung »Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei« führt. (Zu seiner Zuständigkeit gehört außerdem der Strafvollzug - s. Rz. 18-23 zu Art. 97 - und die Feuerwehr [Gesetz über den Brandschutz in der Deutschen Demokratischen Republik - Brandschutzgesetz - v. 19.12.1974 (GBl. DDR Ⅰ 1974, S. 575); zuvor: Gesetz zum Schutze vor Brandgefahren (Brandschutzgesetz) v. 18.1.1956 (GBl. DDR Ⅰ 1956, S. 110) und Erste Durchführungsbestimmung zum Brandschutzgesetz v. 16.1.1961 (GBl. DDR ⅠⅠ 1961, S. 49); Anordnung über die Aufgaben und Organisation der örtlichen freiwilligen Feuerwehren und der betrieblichen Feuerwehren sowie die Rechte und Pflichten ihrer Angehörigen v. 2.2.1976 (GBl. DDR Ⅰ 1976, S. 150); zuvor: Verordnung über die Statuten der Freiwilligen Feuerwehren und Pflichtfeuerwehren der örtlichen und betrieblichen Brandschutzorgane v. 14.1.1959 (GBl. DDR Ⅰ 1959, S. 125) und Anordnungen dazu vom 15.1.1959 (GBl. DDR I 1959, Nr. 12 v. 6.3.1959, S. 130, 132 und 133)].) Im Ministerium des Innern ist eine Reihe von Hauptabteilungen für die einzelnen Gliederungen der Polizei zuständig. Ihm unterstehen die Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei. Diesen sind die Volkspolizei-Kreisämter unterstellt. Im Ostsektor Berlins hat das Präsidium der Volkspolizei die Funktion einer Bezirksbehörde, der 8 Volkspolizei-Inspektionen unterstehen. Die Großstädte und die Bezirke des Ostsektors der Stadt Berlin sind in Reviere eingeteilt. In kleineren Städten und in den ländlichen Gebieten bestehen Außenstellen. In den Revieren wirken, meist im Offiziersrang, Abschnittsbevollmächtigte, die in unmittelbarem Kontakt mit der Bevölkerung stehen und sie zu kontrollieren haben. Die DVP umfaßt die Schutz-, Wasserschutz-, Verkehrs- und die Kriminalpolizei. Außerdem verfügt sie über kasernierte militärähnliche Verbände a) unter der Bezeichnung »Bereitschaftspolizei«, die bis 1. 10. 1956 »Innere Truppen« genannt wurden und bis 15.2. 1957 dem Ministerium für Staatssicherheit (s. Rz. 74-76 zu Art. 7) unterstellt waren, sowie b) unter der Bezeichnung »Transportpolizei« zur Sicherung der Eisenbahn und zur Kontrolle der mit ihr Reisenden. Wie sich aus ihrer Zusammensetzung ergibt, erfüllt die DVP nicht nur normale polizeiliche Funktionen, sondern ergänzt mit der Bereitschaftspolizei und in gewissem Grade auch mit der Transportpolizei auf bestimmten Sektoren die NVA in ihrer Aufgabe der Landesverteidigung. Sie bildet mit diesen Verbänden neben den Kampfgruppen, deren Ausbildung ihr obliegt (s. Rz. 40-43 zu Art. 7), eine weitere Territorialarmee, die jedoch auch frontverwendungsfähig ist. Die Stärke der Polizeitruppen wird auf etwa 80 000 Mann geschätzt.
Dienstlaufbahnordnung und Förderung entlassener Angehöriger
61 d) Wie die Grenztruppen der NVA wird die DVP durch ehrenamtlich tätige Helfer unterstützt [Verordnung über die Zulassung und die Tätigkeit freiwilliger Helfer zur Unterstützung der Deutschen Volkspolizei und der Grenztruppen der Nationalen Volksarmee v. 16.3.1964, GBl. DDR ⅠⅠ 1964, S. 241); zuvor: Verordnung über die Zulassung freiwilliger Helfer zur Unterstützung der Deutschen Grenzpolizei v. 5.6.1958 (GBl. DDR Ⅰ 1958, S. 501)]. Helfer können Bürger werden, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Sie sind verpflichtet, die DVP oder die Grenztruppen der NVA bei der Erfüllung ihrer Aufgaben aktiv zu unterstützen. Die Helfer der DVP erfüllen ihre Funktionen unter Leitung der DVP selbständig oder im Zusammenwirken mit Volkspolizeiangehörigen. Sie haben u. a. das Recht und die Pflicht, Personalien festzustellen, gegen ordnungswidrige Handlungen einzuschreiten, Personen zur Feststellung der Personalien einer Dienststelle der DVP zuzuführen oder einem Angehörigen der DVP zu übergeben, Hinweise und Mitteilungen zur Weiterleitung an die DVP entgegenzunehmen sowie Personen vorläufig festzunehmen. Außerdem haben sie die Befugnis, Hausbücher, die Daten über die Hausbewohner enthalten [§ 14 Verordnung über das Meldewesen in der Deutschen Demokratischen Republik - Meldeordnung - (MO) v. 15.7.1965 (GBl. DDR ⅠⅠ 1965, S. 761)], zu kontrollieren, für den Abschnittsbevollmächtigten Sprechstunden durch-zufuhren sowie Funktionen der Verkehrspolizei wahrzunehmen. Auch die Organisation der DVP ragt also in den Raum der Gesellschaftsorganisation hinein.
SED und DVP
62 e) Die SED hat in der DVP eine besondere Parteiorganisation (Ziffer 68 des Statuts). Jedoch gibt es bei ihr nicht die Einrichtung der Politoffiziere. Im Parteiprogramm der SED von 1976 (S. 89) werden u. a. die Organe des Ministeriums des Innern, darunter auch die DVP, verpflichtet, stets eine hohe Kampfkraft und Gefechts- und Einsatzbereitschaft zum Schutz des Sozialismus und des Friedens sowie zur Gewährleistung der territorialen Integrität, der Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen und der staatlichen Sicherheit der DDR zu gewährleisten (Wortlaut s. Rz. 35 zu Art. 7).
Das materielle Polizeiverwaltungsrecht
63 f) Grundlage für die Tätigkeit der DVP auf dem Gebiete der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist das Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei v. 11.6.1968 (GBl. DDR Ⅰ 1968, S. 232). Es beschreibt die Aufgaben der DVP: aktive Unterstützung der sozialistischen Entwicklung in der DDR und deren Schutz, Schutz der Bürger, Vorbeugung vor Gefahren für die sozialistische Gesellschaft und die Bürger, Beseitigung von Störungen, Aufklärung von Straftaten und anderer Rechtsverletzungen. Die DVP wird zur Zusammenarbeit mit der Bevölkerung und mit den örtlichen Organen der Staatsmacht, den Wirtschaftsorganen und den gesellschaftlichen Organisationen verpflichtet. Sie soll »ein höheres Niveau der wissenschaftlichen Führung, Ausbildung und klassenmäßigen Erziehung ihrer Angehörigen« erreichen. In organisatorischer Hinsicht legt das Gesetz nur die zentrale Führung durch den Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei fest (§ 1 Abs. 2). Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Die Deutsche Volkspolizei wurde bereits seit 1952 durch Freiwillige aus der Bevölkerung unterstützt. Letzte Rechtsgrundlage war die Verordnung über die freiwilligen Helfer der Deutschen Volkspolizei v. 1.4.1982 (GBl. DDR Ⅰ 1982, S. 343) (Einzelheiten in ROW 5/1982, S. 215).
65 Der Begriff des Ermessens wird im Gesetz nicht verwendet. Über die Wahrnehmung der Befugnisse heißt es, die Angehörigen der DVP seien verpflichtet, ihre Befugnisse so wahrzunehmen, »daß gestaltend auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit Einfluß genommen, wirksam Gefahren vorgebeugt wird und Störungen beseitigt werden, die das Leben, die Gesundheit von Menschen, das sozialistische, persönliche oder private Eigentum bedrohen oder in anderer Weise die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigen«. Die Maßnahmen dürfen nur unter strenger Wahrung der gesetzlichen Bestimmungen und in dem Umfange getroffen und nur solange durchgeführt werden, wie dies zur Abwehr von Gefahren oder zur Beseitigung von Störungen im Interesse der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit notwendig ist (§ 8 Abs. 1 Sätze 1 und 2). Diese Bestimmungen gehen davon aus, daß es keinen Spielraum für ein Ermessen gibt. Da aber gesetzliche Bestimmungen nicht alle Fälle des Lebens erfassen können und es zur Abwendung von Gefahren und zur Beseitigung von Störungen nicht selten die Auswahl zwischen zwei oder mehr Möglichkeiten gibt, besteht ein Spielraum für die Entscheidung. Dieser soll aber nicht im freien Ermessen, das stets auch ein pflichtgemäßes Ermessen ist, ausgefüllt werden, vielmehr anhand der »politischen Zielsetzungen und ökonomischen Beweggründe« der anzuwendenden Rechtsnorm (Karl Bönninger u.a., Das Verwaltungsrecht ..., S. 194). Es wird damit angenommen, daß es stets nur eine richtige Entscheidung gibt, für die die Polizei die Verantwortung trägt. Die Frage eines Ermessensmißbrauchs wird nicht akut. Eine falsche Entscheidung ist immer eine zugleich ungesetzliche. (S. auch Hartwig Lüers, Der sozialistische Polizeibegriff in der DDR, S. 264).
66 Über die Polizeipflichtigkeit bestimmt das Gesetz, daß sich die DVP zuerst an denjenigen zu wenden hat, der einen gefährlichen oder störenden Zustand verursacht hat, oder an den, der für diese Person verantwortlich ist. Wird durch eine Sache die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet oder gestört, hat sich die DVP an den Rechtsträger, Eigentümer, Besitzer oder Verwalter der Sache oder an die Person zu wenden, die die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt. Die DVP kann sich aber auch an andere Personen wenden, wenn die Gefahr oder die Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht auf andere Weise abzuwehren oder zu beseitigen ist (§ 9). Sie kann Personen zur Unterstützung auffordern, wenn die für die Gefahr oder Störung Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig herangezogen werden können oder die eigenen Kräfte nicht ausreichen und für das Leben oder die Gesundheit der aufgeforderten Personen keine erhebliche Gefahr besteht oder nicht andere wichtige Pflichten verletzt werden (§11 Abs. 4). Die Bestimmungen über die Polizeipflichtigkeit entsprechen also den herkömmlichen Regelungen. Die Angehörigen der DVP haben eine Legitimationspflicht (§ 10).
67 Für den Begriff der Polizeiverfügung wird der Begriff »Forderung« verwendet. Die DVP ist in Erfüllung der ihr übertragenen Aufgaben befugt, zur Durchsetzung gesetzlicher Bestimmungen die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen und »Forderungen« zu stellen. Ferner ist sie berechtigt, Erlaubnisse und Genehmigungen zu erteilen sowie Ausweise, polizeiliche Führungszeugnisse und Bescheinigungen auszustellen. Bei Mißbrauch kann sie Erlaubnisse und Genehmigungen einschränken, zurücknehmen oder entziehen und Dokumente für ungültig erklären. Entscheidungen sollen nach gründlicher Prüfung und Einschätzung des Sachverhalts und der mit den Maßnahmen verbundenen Auswirkungen, insbesondere auf den Beruf, staatsbürgerliche Verpflichtungen und wichtige persönliche Belange getroffen werden (§11 Abs. 1 Sätze 1 und 2, Abs. 2). In diesem Zusammenhang sollen also auch die persönlichen Interessen der Bürger berücksichtigt werden. Die DVP ist berechtigt, Auskünfte aus dem Strafregister anzufordern (§11 Abs. 1 Satz 3). Die DVP ist verpflichtet, zur Vorbeugung oder Abwehr von unmittelbaren Gefahren oder zur Beseitigung von Störungen, die das Leben, die Gesundheit von Menschen, das sozialistische, persönliche oder private Eigentum bedrohen oder in anderer Weise die öffentliche Ordnung beeinträchtigen, wirksame Maßnahmen zu fordern oder unmittelbar selbst auf Kosten des Verantwortlichen durchzuführen, wenn die Beseitigung des Zustandes keinen Aufschub duldet (§ 11 Abs. 3). Wird angeordneten Maßnahmen nicht nachgekommen, ist die DVP zur Ersatzvornahme auf Kosten des Verantwortlichen berechtigt (§ 16 Abs. 1). Forderungen können mündlich, schriftlich oder durch Zeichen erhoben werden. Schriftliche Forderungen sind zu begründen und haben eine Rechtsmittelbelehrung zu enthalten (§11 Abs. 5). Das Gesetz enthält ferner Bestimmungen über die Personalienfeststellung und die Klärung des Sachverhalts. Personalien dürfen nur dann festgestellt werden oder aufgenommen werden, wenn es zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben unbedingt erforderlich ist. Können Personalien nicht an Ort und Stelle zweifelsfrei festgestellt werden, ist eine Zuführung zulässig. Sie ist auch zulässig, wenn es zur Klärung eines die öffentliche Ordnung und Sicherheit erheblich gefährdenden Sachverhalts unumgänglich ist. Bürger, die einen zivilrechtlichen Anspruch gegenüber einem anderen Bürger glaubhaft begründen, sollen auf Ersuchen durch Feststellung und Austausch der Personalien unterstützt werden (§ 12). Insoweit wird der Grundsatz durchbrochen, daß die DVP sich nicht um private Angelegenheiten zu kümmern hat (Alois Pawlak/Werner Garbe, a.a.O.). Schließlich sind im Gesetz Bestimmungen über die Durchsuchung von Personen (§13 Abs. 1) und den Gewahrsam (§ 15) (s. Rz. 29, 30 zu Art. 30), über die Verwahrung und Einziehung von Sachen (§ 13 Abs. 2 bis 4) (s. Rz. 15, 16 zu Art. 11) und über das Betreten von Grundstücken, Wohnungen und anderen Räumen (§ 14) (s. Rz. 29 zu Art. 37) enthalten.
68 Bei Widerstand, Behinderung oder Nichtbefolgung von Maßnahmen ist körperliche Einwirkung zulässig, wenn andere Maßnahmen nicht ausreichen. Die Anwendung von »Hilfsmitteln« ist nur gestattet zur Abwehr von Gewalttätigkeiten, Verhinderung von Fluchtversuchen oder, wenn die körperliche Einwirkung nicht zum Erfolg führt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist zu wahren (§ 16 Abs. 2). Die Anwendung von Schußwaffen ist nur im »äußersten Falle« erlaubt, »wenn andere Maßnahmen der körperlichen Einwirkung« ohne oder mit Hilfsmitteln erfolglos geblieben sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Gegen Personen ist sie erst dann zulässig, wenn durch Waffenwirkung gegen Sachen der Zweck nicht erreicht wird (§ 17 Abs. 1). Ausdrücklich wird die Anwendung von Schußwaffen für gerechtfertigt erklärt (1) zur Verhinderung der unmittelbar bevorstehenden Ausführung oder der Fortsetzung eines Verbrechens gegen die Souveränität der DDR, den Frieden, die Menschlichkeit oder die Menschenrechte, eines Verbrechens gegen die DDR, eines Verbrechens gegen die Persönlichkeit, gegen die allgemeine Sicherheit oder gegen die staatliche Ordnung oder eines Verbrechens, das unter Anwendung von Sprengmitteln oder Schußwaffen begangen werden soll oder ausgeführt wird, (2) zur Verhinderung der Flucht oder zur Wiederergreifung von Personen, - die eines Vergehens dringend verdächtig sind oder wegen eines solchen festgenommen, verhaftet wurden, - die eines Vergehens dringend verdächtig sind oder wegen eines solchen festgenommen, verhaftet oder zu Freiheitsstrafe verurteilt wurden, und wenn Anhaltspunkte vorliegen, daß Schußwaffen oder Sprengmittel gebraucht werden sollen oder die Flucht mittels Gewalt oder tätlichen Angriffs gegen Bewachungspersonen durchgeführt oder gemeinschaftlich begangen wird, - die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und in die strenge oder allgemeine Vollzugsart (s. Rz. 20 zu Art. 30) eingewiesen wurden, sowie gegen Personen, - die wegen eines Verbrechens oder Vergehens Festgenommene, Verhaftete oder zu Freiheitsentzug Verurteilte mit Gewalt zu befreien versuchen oder dabei mitwirken (§ 17 Abs. 2). Die Anwendung von Schußwaffen ist durch Zuruf oder Abgabe eines Warnschusses anzukündigen, sofern nicht die unmittelbar bevorstehende Gefahr nur durch die gezielte Anwendung der Schußwaffe verhindert oder beseitigt werden kann. Bei der Anwendung von Schußwaffen ist das Leben nach Möglichkeit zu schonen. Verletzten soll Hilfe geleistet werden, wenn die Durchsetzung der polizeilichen Maßnahme es zuläßt. Unzulässig ist die Anwendung gegen Personen im Kindesalter. Dasselbe gilt, wenn unbeteiligte Personen gefährdet werden können. Gegen Jugendliche und weibliche Personen sind nach Möglichkeit Schußwaffen nicht anzuwenden (§ 17 Abs. 3 bis 5). Für die Anwendung von Schußwaffen durch die DVP gelten strengere Bestimmungen als für den Schußwaffengebrauch durch die Grenztruppen der NVA (s. Rz. 11 zu Art. 7). Trotzdem sind die Bestimmungen für die DVP weniger streng als die entsprechenden in der Bundesrepublik, besonders was die Anwendung von Schußwaffen bei Vergehen anbetrifft [Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) v. 10.3.1961 (BGBl. I S. 165)]. Die Anwendung bei Staatsverbrechen ist eine Folge des strengen politischen Strafrechts der DDR.
69 Das Gesetz regelt ferner die Entschädigungspflicht der DVP für Personen, die bei der Unterstützung der DVP einen Schaden erleiden. Ein Schadensersatz ist für eine Person ausgeschlossen, die zur Mithilfe bei der Beseitigung der von ihr verursachten Störungen hinzugezogen wurde (§ 18). Als Rechtsmittel ist nur die Beschwerde zugelassen, die innerhalb einer Frist von 14 Tagen, nachdem der Beschwerdegrund bekannt wurde, bei der Dienststelle der DVP mündlich oder schriftlich einzulegen ist, die die Maßnahme getroffen hat. Sie hat keine aufschiebende Wirkung. Jedoch können Ausnahmen zugelassen werden. Gibt der Leiter der Dienststelle der Beschwerde nicht statt, entscheidet der Leiter der übergeordneten Dienststelle innerhalb einer Frist von 2 Wochen endgültig.
70 Der Ministerrat kann anderen Organen die Ausübung der in diesem Gesetz geregelten Befugnisse übertragen. Unmittelbar durch das Gesetz werden die Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit (s. Rz. 74-76 zu Art. 7) ermächtigt, die im Gesetz geregelten Befugnisse wahrzunehmen. Das Entsprechende gilt für die Angehörigen der NVA, für die der Minister für Nationale Verteidigung nähere Festlegungen trifft (s. Rz. 11 zu Art. 7 für den Schußwaffengebrauch an der Grenze).
74 a) Im Zusammenwirken mit der sowjetischen Besatzungsmacht wurde schon im Jahre 1945 mit dem Aufbau einer politischen Polizei begonnen. Der Form nach war sie als »Kommissariat 5« (K 5) in die DVP eingegliedert, in Wirklichkeit wurde sie vom sowjetischen Geheimdienst MGB geführt. Die Deutsche Verwaltung des Innern führte ein Referat K 5 als Auftragsangelegenheit der Besatzungsmacht. Außerdem bestand bei der DWK (s. Rz. 33 zur Präambel) seit dem 12.5.1948 ein »Ausschuß zum Schutz des Volkseigentums«, dem die administrative Kontrolle des Volkseigentums übertragen wurde. Beide Einrichtungen wurden nach Bildung des Ministeriums des Innern in ihm zu der »Hauptverwaltung Schutz des Volkseigentums« zusammengefaßt. Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Das Ministerium für Staatssicherheit verfügte seit 1965 über eine eigene Hochschule, die “Juristische Hochschule (JHS) des Ministeriums für Staatssicherheit“ mit Promotions- und Habilitationsrecht in Potsdam-Eiche (zuvor seit 1951 nur “Schule“ genannt). Deren Existenz wurde geheimgehalten (Einzelheiten bei Günter Förster, Die Dissertationen der “Juristischen Hochschule“ des MfS - Eine annotierte Bibliographie“, Veröffentlichungen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Abteilung Bildung und Forschung, Reihe A Nr. 2/94, Berlin 1995). Das Ministerium für Staatssicherheit verfügte über ein nicht veröffentlichtes Statut. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 3.10.1990 wurden die Unterlagen des Ministeriums in die Verwaltung eines Bundesbeauftragten [Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz - STUG) vom 20.12.1991 (BGBl. I 1991, S. 2272)] genommen und erschlossen. Es ergab sich daraus, daß die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes umfangreicher war, als man im allgemeinen angenommen hatte. Der Satz in diesem Kommentar (s. Präambel, Rz. 43), er habe die Verfassungswirklichkeit der DDR maßgeblich beeinflußt, hat sich als zutreffend erwiesen. Indessen blieb er als “Schirm und Schwert der Partei“ stets ein Exekutivorgan. Er bildete niemals einen “Staat im Staate“. Er hat allenfalls insoweit Einfluß auf die Partei- und Staatsführung genommen, als sein Chef (Zaisser 1950 bis 1953, Mielke 1976 bis 1989) Mitglied des Politbüros des ZK der SED gewesen war. Die Literatur über den Staatssicherheitsdienst ist außerordentlich gewachsen, auch die, welche die Sensationsgier befriedigen sollte. Sie kann im einzelnen hier nicht aufgeführt werden. Hingewiesen sei aber auf die verdienstvollen Veröffentlichungen der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.
76 Die Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sind: Sicherung der Streitkräfte (NVA und DVP), Spionageabwehr und Gegenspionage, Sicherung der Wirtschaft, Kampf gegen verdächtige Vereinigungen, Verkehrssicherung, Schutz hoher Staats- und Parteifunktionäre. Das Ministerium hat ein eigenes Wachregiment in Stärke von etwa 4500 Mann. Seine »Hauptverwaltung Aufklärung« betreibt eine umfangreiche Spionage in der Bundesrepublik und auch im Ausland. Dem Ministerium für Staatssicherheit obliegt die Telefon- und Briefüberwachung (s. Rz. 9-19 zu Art. 31). In den Territorien der DDR hat das Ministerium nachgeordnete Dienststellen. Diese sind nicht in die örtlichen Organe eingegliedert, haben aber wie die örtlichen Dienststellen der DVP mit diesen zusammenzuarbeiten. Das Ministerium wirbt aus der Bevölkerung, nicht selten unter Ausübung von Druck, Helfer (Inoffizielle Mitarbeiter (IM)) an. Eine gesetzliche Grundlage gibt es für deren Tätigkeit nicht. Die hauptamtlichen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit haben die Befugnisse, die den Angehörigen der DVP zustehen [§ 20 Abs. 2 Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei v. 11.6.1968 (GBl. DDR Ⅰ 1968, S. 232)] (s. Rz. 64-68 zu Art. 7).
3. Katastrophenschutz
77 Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Katastrophen waren zunächst in der Verordnung vom 28.2.1963 [Verordnung über die Verhütung und Bekämpfung von Katastrophen v. 28.2.1963 (GBl. DDR ⅠⅠ 1963, S. 139)] festgelegt. In Anpassung an das Zivilverteidigungsgesetz (s. Rz. 48 zu Art. 7) erging zunächst die Verordnung vom 13.1.1971 [Verordnung über die Verhütung und Bekämpfung von Katastrophen v. 13.1.1971 (GBl. DDR ⅠⅠ 1971, S. 117)] . Diese wurde durch die Verordnung über den Katastrophenschutz v. 15.5.1981 (GBl. DDR Ⅰ 1981, S. 257) ersetzt. Danach ist der Katastrophenschutz Bestandteil der Zivilverteidigung. »Er hat die Aufgabe, die Bevölkerung, die Volkswirtschaft, die lebensnotwendigen Einrichtungen und kulturellen Werte vor Katastrophen zu schützen.« Er umfaßt den vorbeugenden Katastrophenschutz sowie die Abwehr und Bekämpfung von Katastrophen und die Beseitigung ihrer Auswirkungen. Die Hauptanstrengungen sollen auf einen wirksamen vorbeugenden Katastrophenschutz gerichtet werden. Der Katastrophenschutz ist Bestandteil der Zivilverteidigung (§ 1 Abs. 1 und 2). Unter Katastrophen werden folgenschwere Naturereignisse einschließlich extremer Wettererscheinungen und andere Schadens- oder Unglücksfälle großen und in der Regel überörtlichen Ausmaßes verstanden, deren Bekämpfung den koordinierten Einsatz von Kräften, materiellen und technischen Mitteln sowie eine einheitliche, komplexe territoriale Führung erfordert (§ 2 Abs. 1). Die zentrale staatliche Leitung der Maßnahmen des Katastrophenschutzes obliegt dem Ministerrat. Bei ihm wird eine Zentrale Katastrophenkommission gebildet. Die Minister und die Leiter der anderen zentralen Staatsorgane, die Leiter der wirtschaftsleitenden Organe, Kombinate, Betriebe und Einrichtungen sowie die Vorsitzenden der Genossenschaften sind in ihrer Eigenschaft als Leiter der Zivilverteidigung für die Maßnahmen des Katastrophenschutzes in ihrem Verantwortungsbereich verantwortlich (§§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1). Die zentrale Anleitung und Kontrolle des vorbeugenden Katastrophenschutzes, außer gegenüber den bewaffneten Organen, obliegt dem Leiter der Zivilverteidigung. Den Vorsitzenden der örtlichen Räte obliegt in ihrer Eigenschaft als Leiter der Zivilverteidigung die Leitung des Katastrophenschutzes. Sie sind im jeweiligen Territorium für die komplexe Planung, Koordinierung und Kontrolle der Maßnahmen des vorbeugenden Katastrophenschutzes und die Leitung der Bekämpfung von Katastrophen verantwortlich. Sie haben das Recht, a) gemäß den Regelungen des Verteidigungsgesetzes vom 13.10.1978 [Gesetz über die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Landesverteidigungsgesetz) v. 13.10.1978 (GBl. DDR Ⅰ 1978, S. 377)] den Leitern der Zivilverteidigung der wirtschaftsleitenden Organe, Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und Genossenschaften, unabhängig von ihrem Unterstellungsverhältnis, sowie Bürgern Weisungen und Auflagen zu erteilen; b) zur Bekämpfung von Katastrophen arbeitsfähige Bürger zur Arbeitsleistung zu verpflichten (s. Rz. 28 zu Art. 24) und den Einsatz von Arbeitskräften sowie von technischen und materiellen Mitteln aus Betrieben ihres Territoriums, unabhängig von Unterstellungsund Eigentumsverhältnissen, anzuordnen; c) bei Katastrophengefahr oder plötzlichem Eintritt einer Katastrophe Katastrophenalarm auszulösen. Der Einsatz der Kräfte und technischen Mittel der Deutschen Volkspolizei und der Brandschutzorgane richtet sich nach den für diese geltenden Gesetze (Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei vom 11.6.1968 [Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei v. 11.6.1968 (GBl. DDR Ⅰ 1968, S. 232)], Gesetz über den Brandschutz in der Deutschen Demokratischen Republik - Brandschutzgesetz - v. 19.12.1974 (GBl. DDR Ⅰ 1974, S. 575) und nach den dafür geltenden Befehlen, Dienstvorschriften und anderen Weisungen des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei. Kein unmittelbares Weisungsrecht besteht gegenüber den Dienststellen der NVA. Erforderliche Kräfte und technische Mittel der NVA sind von den Leitern der Zivilverteidigung der Bezirke über die Chefs der zuständigen Wehrbezirkskommandos der NVA beim zuständigen Chef des Teiles der NVA bzw. des Militärbezirkes anzufordern. Die Kräfte und Mittel der NVA werden entsprechend den dazu erlassenen Befehlen und Bestimmungen des Ministers für Nationale Verteidigung eingesetzt. Bei Gefahr im Verzüge können von den Leitern der Zivilverteidigung der Bezirke die Chefs der Bezirksbehörden der DVP sowie die Chefs der Teile der NVA und Militärbezirke, der Stadtkommandant von Berlin (Ost), die Kommandeure der Verbände der NVA sowie die Standortältesten ersucht werden, unverzüglich Kräfte und technische Mittel zum Einsatz zu bringen. Alle Bürger sind verpflichtet, Wahrnehmungen und Feststellungen über vorhandene Gefahrenquellen und eingetretene Katastrophen den Staatsorganen zu melden und aktiv an der Abwehr und Bekämpfung von Katastrophen teilzunehmen. Die Staatsorgane sind verpflichtet, Mitteilungen der Bevölkerung sowie eigene Wahrnehmungen über Gefahrenquellen oder eingetretene Katastrophen dem zuständigen Leiter der Zivilverteidigung unverzüglich mitzuteilen. Gegen Maßnahmen des Katastrophenschutzes ist das Rechtsmittel der Beschwerde gegeben, die keine aufschiebende Wirkung hat. Über sie ist innerhalb einer Woche nach ihrem Eingang durch den Leiter der Zivilverteidigung zu entscheiden. Wird der Beschwerde nicht stattgegeben, ist sie innerhalb dieser Frist dem übergeordneten Leiter der Zivilverteidigung zuzuleiten. Dieser entscheidet innerhalb weiterer zwei Wochen endgültig.
VII. Waffenbrüderschaft mit den Armeen der Sowjetunion und anderen sozialistischer Staaten
78 Völkerrechtliche Grundlage für die enge Waffenbrüderschaft mit den Armeen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten sind der Warschauer Pakt und die Bündnisverträge, die die DDR mit anderen sozialistischen Staaten geschlossen hat (s. Rz. 33, 34 zu Art. 6). Die Abhängigkeit der Verteidigung der DDR von ihren Bündnispartnern beleuchtet § 1 Abs. 3 Satz 2 des Verteidigungsgesetzes von 1978 [Gesetz über die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik (Landesverteidigungsgesetz) v. 13.10.1978 (GBl. DDR Ⅰ 1978, S. 377)], demzufolge eine grundlegende Voraussetzung für die Stärke der Landesverteidigung der DDR »die auf den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus beruhende enge Waffenbrüderschaft der Nationalen Volksarmee mit den Armeen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten« ist.
Vgl. Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik mit einem Nachtrag über die Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989 und das Ende der sozialistischen Verfassung, Kommentar Siegfried Mampel, Dritte Auflage, Keip Verlag, Goldbach 1997, Seite 245-280 (Verf. DDR Komm., Abschn. Ⅰ, Kap. 1, Art. 7, Rz. 1-78, S. 245-280).
Dokumentation Artikel 7 der Verfassung der DDR; Artikel 7 des Kapitels 1 (Politische Grundlagen) des Abschnitts Ⅰ (Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung) der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vom 6. April 1968 (GBl. DDR Ⅰ 1968, S. 206) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl. DDR I 1974, S. 435). Die Verfassung vom 6.4.1968 war die zweite Verfassung der DDR. Die erste Verfassung der DDR ist mit dem Gesetz über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949 (GBl. DDR 1949, S. 5) mit der Gründung der DDR in Kraft gesetzt worden.