(1) Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik üben ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus. (2) Die Volksvertretungen sind die Grundlage des Systems der Staatsorgane. Sie stützen sich in ihrer Tätigkeit auf die aktive Mitgestaltung der Bürger an der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle ihrer Entscheidungen. (3) Zu keiner Zeit und unter keinen Umständen können andere als die verfassungsmäßig vorgesehenen Organe staatliche Macht ausüben.
I. Die Transformation der politischen in die staatliche Macht
1. Träger der Macht
1 Art. 5 Abs. 1 schließt an Art. 2 Abs. 1 S. 1 an. Während dort festgelegt wird, welche gesellschaftlichen Kräfte die Macht ausüben, wird hier bestimmt, durch welche staatlichen Organe die Träger der Macht diese ausüben.
2 a) Art. 2 Abs. 1 S. 1 bezeichnet als Machtausübende die »Werktätigen in Stadt und Land«. Art. 5 Abs. 1 spricht von »Bürgern«. Jedoch ist der Wechsel in der Terminologie unschädlich, da die Verfassung beide Begriffe synonym verwendet (s. Rz. 4 zu Art. 2). Offenbar wird hier der Begriff »Bürger« verwendet, weil hier nicht die Stellung des einzelnen in der in Klassen strukturierten Gesellschaft im Vordergrund steht, sondern seine Stellung als Gleichberechtigter und Gleichverpflichteter in der Gemeinschaft (s. Rz. 29-33 zu Art. 3).
3 b) Die Bürger üben ihre Macht nicht unmittelbar aus. Es bestehen für die Machtausübung staatliche Organe, die Volksvertretungen. Diese sind:
(1) die Volkskammer als das oberste staatliche Machtorgan der DDR (Art. 48 Abs. 1 S. 1),
(2) die örtlichen Volksvertretungen als die Organe der Staatsmacht in den Bezirken, Kreisen, Städten, Stadtbezirken, Gemeinden und Gemeindeverbänden (Art. 81 Abs. 1). Diese werden in der Verfassung nicht namentlich aufgeführt. Es sind diese seit 1952: die Bezirkstage, die Kreistage, die Stadtverordnetenversammlungen, die Stadtbezirksversammlungen, die Gemeindevertretungen.
Im Ostsektor von Berlin hat die Stadverordnetenversammlung die Funktion eines Bezirkstages. In den neun Stadtbezirken bestehen Stadtbezirksversammlungen. Die Formulierung des Art. 5 Abs. 2 könnte zur Annahme führen, daß die Macht nur durch die Volksvertretungen ausgeübt werden dürfte. Damit wären die Elemente der unmittelbaren Demokratie völlig aus der Verfassung verbannt. Das ist zwar nicht ganz der Fall. Die plebiszitäre Komponente ist indessen nur schwach entwickelt. Die Verfassung von 1968/1974 kennt als Verfahren über Gesetzesbeschlüsse das Volksbegehren und den Volksentscheid im Gegensatz zur Verfassung von 1949 (Art. 81, 87) nicht. Die Bürger sind also nicht in der Lage, ein Verfahren über einen Gesetzesbeschluß in Gang zu setzen. Nur die Volkskammer kann nach Art. 53 die Durchführung von Volksabstimmungen beschließen, deren Gegenstand nicht näher bezeichnet ist, die also sowohl über einen Gesetzesbeschluß gehen, als auch eine »allgemeine Volksbefragung« im Sinne des Art. 106 der Verfassung von 1949 sein können, die vorzunehmen nach dem genannten Artikel der Staatsrat die Kompetenz hatte. Nur wenn die Volkskammer es für angebracht hält, wird die Gesamtheit der Bürger also zu einer Entscheidung aufgerufen. In einer monistisch organisierten Gesellschaft, in der sich alle Kommunikationsmittel in den Händen der Herrschenden befinden, kann ein solcher Vorgang nur den Charakter einer Akklamation haben. Die bisherigen Erfahrungen bestätigen das (s. Erl. zu Art. 53). Eine unmittelbare Machtausübung durch das Volk ist in einem derartigen Vorgang nicht zu erblicken. Nur in formeller Hinsicht liegt in ihm ein schwaches plebiszitäres Element. Ob auch in den Territorien der DDR Volksabstimmungen stattfmden können, ist aus der Verfassung unmittelbar nicht zu entnehmen. Auch bestehen dafür zur Zeit keine gesetzlichen Möglichkeiten. Die Verfassung verbietet sie aber nicht. Eine ebenfalls nur schwache Entwicklung der plebiszitären Komponente ist die Beteiligung der Bürger an der Arbeit der Volksvertretungen (s. Rz. 33-41 zu Art. 5).
4 c) In der marxistisch-leninistischen Staatstheorie wird die Zurückdrängung der plebiszitären Komponente im Entscheidungsprozeß, die weit darüber hinausgeht, was ein Großflächengemeinwesen mit einer nach Millionen zählenden Bevölkerung erfordert, deswegen als tragbar empfunden, weil die Volksvertretungen nicht als Repräsentativorgane mit eigenem Willen gedacht sind (s. Rz. 10-12 zu Art. 5).
2. Unterscheidung zwischen politischer und staatlicher Macht
5 Art. 5 geht von der Unterscheidung zwischen politischer und staatlicher Macht aus. Art. 2 Abs. 1 S. 1 spricht nur von »politischer« Macht, in Art. 5 werden der Begriff »politische« Macht in Abs. 1 und der Begriff »staatliche« Macht in Abs. 3 verwendet. Der Abschnitt III der Verfassung handelt vom »Aufbau und System der staatlichen Leitung«, mittels derer die staatliche Macht ausgeübt wird. Die Verwendung der beiden Begriffe ist wenig glücklich; denn auch die staatliche Macht ist genaugenommen politische Macht. Sie verleiht die Potenz, politische Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen. Gemeint ist mit politischer Macht die Macht der gesellschaftlichen Kräfte, die Macht der monistisch organisierten Gesellschaft, mit staatlicher Macht die Macht der Staatsorganisation. Der Charakter der Staatsorganisation als Instrument in den Händen der die Macht in der Gesellschaft Ausübenden wird aber evident, wenn deren Macht als »politische«, die Macht der Staatsorganisation aber als »staatliche« Macht bezeichnet wird. Deshalb wird davon gesprochen, daß die sozialistischen Volksvertretungen in sich staatliche und gesellschaftliche Elemente einschlössen und die staatlichen und gesellschaftlichen Elemente der Führung eine Einheit bildeten (Wolfgang Weichelt/Hans-Joachim Karliczek/Helmut Melzer, Die Volksvertretungen nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse, S. 8).
3. Demokratische Wahl der Volksvertretungen
6 a) Die Volksvertretungen sollen demokratisch gewählt werden. Was unter »demokratisch« zu verstehen ist, wird an anderen Stellen der Verfassung gesagt: Art. 22 (Wahlrecht und »sozialistische« Wahlprinzipien), Art. 54 (Zahl der zu wählenden Abgeordneten der Volkskammer, Wahlperioden der Volkskammer, Freiheit, Allgemeinheit, Gleichheit der Wahl und Geheimhaltung der Stimmabgabe bei den Wahlen zur Volkskammer). Art. 54 entspricht dem § 2 Abs. 1 Wahlgesetz 1976 [Gesetz über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - vom 24.6.1976 (GBl. DDR Ⅰ 1976, S. 301) i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Wahlgesetzes vom 28.6.1979 (GBl. DDR Ⅰ 1979, S. 139)]; dieser gilt indessen auch für die örtlichen Volksvertretungen (s. Rz. 32 zu Art. 22).
7 b) Da die Verfassung ein für allemal bindend festlegt, wer die politische Macht ausübt, steht auch fest, wer ein für allemal in der Staatsorganisation die Macht ausübt. Das erfordert, die Wahlprinzipien so festzulegen, daß die Volksvertretungen von den Inhabern der politischen Macht unter allen Umständen personell besetzt werden. Die marxistisch-leninistische Staatstheorie vertritt den Standpunkt: »Wahlsystem und Wahlrecht eines Staates sind nie klassenneutrale Erscheinungen. Sie werden von den politischen Verhältnissen geprägt, wobei die herrschenden Klassenkräfte ihr Bestreben darauf richten, mittels des Wahlsystems und des Wahlrechts die bestehenden Machtverhältnisse zu festigen« (Eberhard Poppe, Wahlen zur Volkskammer ..., S. 865).
8 c) Nach dieser Maxime wurde seit 1950 verfahren (s. Rz. 42 und 50 zur Präambel). Das seitdem praktizierte Wahlsystem wurde durch Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 2, Art. 2 Abs. 2 und 3, Art. 3 zum verfassungsrechtlichen Gebot. Denn nur die Aufstellung eines einheitlichen Wahlvorschlages der Parteien und Massenorganisationen unter dem Namen der Nationalen Front, nach einem Schlüssel für den Anteil jeder Partei und von Massenorganisationen an der Gesamtzahl der Kandidaten, und eine Gestaltung des Wahlrechts, die garantiert, daß die aufgestellten Kandidaten in Zahl und Reihenfolge, wie sie vorher festgelegt sind, auch Abgeordnete werden, gewährleistet, daß die politische Macht von den Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei im Bündnis mit den anderen Klassen und Schichten (Art. 1 Abs. 1 S. 2 und Art. 2 Abs. 2), das heißt also unter der Suprematie der SED, ausgeübt wird. So ist gesichert, daß die SED die Volksvertretungen aller Stufen durch ihre Mitglieder und durch Personen, die, obwohl sie nicht Mitglieder sind, doch als ihre Parteigänger bezeichnet werden müssen, okkupiert. »Die sozialistischen Volksvertretungen bilden die politisch-staatliche Organisation der Arbeiterklasse zur Verwirklichung ihrer führenden Rolle in der sozialistischen Gesellschaft und damit die unmittelbare und alle Werktätigen in ihrem praktisch gesellschaftlichen Handeln auf allen Gebieten, in allen Bereichen und auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens umfassende politische Massenorganisation der Werktätigen in Stadt und Land« (Wolfgang Weichelt, Über das Wesen der sozialistischen Staatsmacht ..., S. 1415).
4. Charakter der Volksvertretungen
9 a) So sind die Volksvertretungen keine Parlamente im Sinne eines parlamentarisch-demokratischen Systems. Zum Verfassungsentwurf schrieben Gert Egler/Wilhelm Hafemann/Lucie Haupt (Zum Aufbau und System der staatlichen Leitung, S. 545): »Weil es um die Macht geht, um die Ermittlung, Formung und Durchsetzung des gesamtgesellschaftlichen Interesses, hebt der Verfassungsentwurf die Rolle der sozialistischen Volksvertretungen hervor und baut sie weiter zu sozialistischen Volksvertretungen aus. Darin kommt auch die wachsende Führung der Arbeiterklasse zum Ausdruck; in den Volksvertretungen vereint die Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei alle gesellschaftlichen Kräfte des Volkes zur gemeinsamen Ausübung der Staatsmacht, führt sie diese in kameradschaftlicher Zusammenarbeit zu dem gemeinsamen Ziel, dem Sieg des Sozialismus.«
10 b) Für die Volksvertretungen eines sozialistischen Staates gilt nicht das Prinzip der Repräsentation im sinne von Gerhard Leibholz (Das Wesen der Repräsentation). Der Wille der Volksvertretungen wird dem Volk nicht zugerechnet, sondern mit dem Willen des Volkes für identisch gehalten. Kriterium für den Charakter einer Volksvertretung ist die verfassungsrechtliche Stellung der Abgeordneten. Das Repräsentationsprinzip verlangt das ungebundene Mandat, das Identitätsprinzip dagegen das imperative. Art. 51 Abs. 3 der Verfassung von 1949 formulierte die Stellung der Abgeordneten der Volkskammer mit den klassischen Sätzen: »Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden.« Sie bekannte sich also zum ungebundenen Mandat. Demgegenüber vertrat P. Alfons Steiniger (Das Blocksystem) schon 1949 die Meinung, wegen des Blocksystems, das auch in der Verfassung von 1949 seinen Ausdruck gefunden habe, wie aus dem Modus der Regierungsbildung (Art. 92, s. Rz. 20 zu Art. 79) hervorgehe, sei in dieser Verfassung der Gegensatz zwischen Identität und Repräsentation aufgehoben. Dabei wendete er sich gegen die Ansicht von Leibholz, es sei »staats- und verfassungstheoretischer Nonsens«, die beiden Strukturprinzipien miteinander kombinieren zu wollen. Steiniger meinte, die Abgeordneten der Volkskammer hätten ein »generell-imperatives« Mandat. Richtig ging er davon aus, daß das Identitätsprinzip die Bindung der Gewählten an die Instruktionen der Wähler voraussetzt, konnte jedoch nicht daran Vorbeigehen, daß die Verfassung von 1949 die Bindung der Abgeordneten verbot. Steiniger legte Art. 51 Abs. 3 so aus, daß damit wohl Einzelanweisungen der Wähler an die Abgeordneten verboten seien, jedoch generelle Anweisungen durch die Wählerorganisationen, also der Parteien, nicht. Indessen wird so der Gegensatz Repräsentation und Identität keineswegs aufgehoben. Denn auch der Parteiwille kann nicht mit dem empirischen Willen des Volkes identifiziert werden. So weit geht nicht einmal die marxistisch-leninistische Staatstheorie; denn sie identifiziert nicht den empirischen, sondern den »geschichtlich notwendigen« Willen des Volkes (Karl Polak, s. Rz. 21 zu Art. 1) mit dem Willen der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.
11 Indessen wurden ohne Änderung der formellen Rechtsverfassung das Mandat der Abgeordneten in ein imperatives verwandelt. So wurde durch die Geschäftsordnung der Volkskammer vom 19.11.1954 (Hans Ulrich Hochbaum, Staats- und verwaltungsrechtliche Gesetze, S. 126) die Verpflichtung der Abgeordneten eingeführt, »Wähleraufträge« entgegenzunehmen, für deren Erledigung sie die persönliche Verantwortung tragen sollen. Die Möglichkeit der Abberufung wurde aus Art. 59 der Verfassung von 1949 hergeleitet (s. Rz. 9 zu Art. 57). Für die Abgeordneten der örtlichen Volksvertretungen wurde diese Bindung durch die §§22 und 26 des Gesetzes über die örtlichen Organe der Staatsmacht vom 18.1.1957 (GBl. DDR Ⅰ 1957, S. 65) eingeführt. Die Bindung der Abgeordneten der Volkskammer erhielt in den Art. 56 Abs. 2 und 57 eine verfassungsrechtliche Grundlage. Indessen bedeutet diese Bindung in der monistisch unter der Suprematie der SED organisierten DDR-Gesellschaft faktisch die Bindung an den Willen der SED (s. Erl. zu Art. 56 und zu Art. 57). Die marxistisch-leninistische Staatstheorie leitet eine Erklärung für die Stellung der Abgeordneten in den Volksvertretungen eines sozialistischen Staates aus deren besonderer Funktion her: »Indem hier Wesensmerkmale der sozialistischen Abgeordnetenfunktion - vor allem die Gebundenheit an das objektive Interesse des Volkes, wie es im Programm und Aufruf der Nationalen Front Ausdruck findet - skizziert worden sind, sollte den Leitbildern der bürgerlichen Staatslehre eine Absage erteilt werden. Weder das jede Rechenschaftspflicht und Verantwortlichkeit des Abgeordneten vor seinen Wählern ausschließende freie Mandat noch das auf sterile, unselbständige Meinungsübermittlung von Wählern oder Wählergruppen an das Vertretungsorgan einschränkende imperative Mandat kann unsere sozialistische Wirklichkeit in ihrer prinzipiellen Übereinstimmung der Ziele und Interessen von Gesellschaft und Staat, Wählern und Abgeordneten und das damit entstandene Vertrauensverhältnis erfassen. Deshalb wäre es falsch, die sozialistische Abgeordnetenfunktion in ein Schema zu pressen, das nicht die sozialistische, sondern eine durch sie überwundene Wirklichkeit reflektiert - und das zudem noch unwahr« (Eberhard Poppe, Wahlen zur Volkskammer ..., S. 873). Damit wird aber lediglich bestätigt, was in kritischer Betrachtung schon früher festgestellt worden war (Siegfried Mampel, Der Wählerauftrag ..., S. 88). Ungebunden ist das Abgeordnetenmandat auf keinen Fall. Friedrich Ebert (Fragen der Entwicklung ..., S. 5) schrieb, man könne dem Abgeordneten die Entscheidung darüber, ob er einen Wählerauftrag annehmen kann, nicht allein überlassen. Das Lehrbuch »Staatsrecht der DDR« (S. 304) bringt die Bindung des Abgeordneten dadurch zum Ausdruck, daß es darin heißt: »Der Wählerauftrag ist seinem Wesen nach eine kollektive Willensäußerung der Wähler und bedarf der Bestätigung durch die Volksvertretung. Die betreffende Empfehlung wird auf einer vom Ausschuß der Nationalen Front oder von der Betriebsgewerkschaftsleitung einberufenen Versammlung mit Beteiligung des oder der Abgeordneten beraten und von der Versammlung zum Beschluß erhoben. Dies macht deutlich, daß er also die gesellschaftlichen Interessen eines großen Kreises von Werktätigen zum Ausdruck bringen und zudem mit den gesamtgesellschaftlichen Interessen im Einklang stehen muß.« Da nur die SED-Führung für fähig gehalten wird, das gesamtgesellschaftliche Interesse zu erkennen, kann der Abgeordnete nur im von dieser Partei gesetzten Rahmen seine Funktionen ausüben. »Heute gibt es keine Bezirks- oder Kreisleitung der SED, die die qualifizierte politische Führung der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe nicht auf der Basis von langfristigen Direktiven realisiert und kontrolliert« (Karl-Heinz Badstube, Zur Dialektik ..., S. 20). (Wegen der Verbindung der Abgeordneten der Volkskammer zu den Wählern s. auch Erl. zu Art. 56)
12 Deshalb gilt für die Volksvertretungen in der DDR das Prinzip der Identität. Indessen findet die Identifikation nicht mit dem empirischen Willen der Aktivbürgerschaft, sondern mit dem Willen der die Gesellschaft führenden Kraft, der marxistisch-leninistischen SED, statt.
II. Die Volksvertretungen als Grundlage des Systems der Staatsorgane
1. Abhängigkeit der Staatsorgane von den Volksvertretungen
13 a) Art. 5 Abs. 2 S. 1 legt den hierarchischen Aufbau der Staatsorgane mit den Volksvertretungen als Basis fest. Alle Staatsorgane leiten ihre Kompetenzen von diesen ab. Es darf kein Staatsorgan bestehen, das nicht personell von den Volksvertretern besetzt wird, das nicht von ihnen die Grundsätze seiner Tätigkeit bestimmt erhält, ihnen nicht verantwortlich oder rechenschaftspflichtig ist und deren Mitglieder von ihnen gegebenfalls nicht abberufen werden können. »Alle anderen Staatsorgane werden von ihnen gebildet, geführt und kontrolliert« (W. M. Tschchikwadse, Die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtswissenschaft ..., S. 1393).
14 b) Die Abhängigkeit der Staatsorgane besteht zunächst von der Volksvertretung der gleichen Stufe, das heißt also die der zentralen Staatsorgane von der Volkskammer, die der örtlichen vollziehenden Staatsorgane vom Bezirkstag, dem Kreistag, der Stadtverordnetenversammlung, der Stadtbezirksversammlung und der Gemeindevertretung.
15 c) Aufbau und System der staatlichen Leitung werden im Abschnitt III (Art. 47 bis 85) der Verfassung im einzelnen geregelt.
2. Bildung der Staatsorgane
16 a) Die Organe, für die die Volkskammer die personelle Zusammensetzung und die Grundsätze ihrer Tätigkeit zu bestimmen hat, sind der Staatsrat, der Ministerrat, das Oberste Gericht und der Generalstaatsanwalt. Außerdem bestimmt die Volkskammer die Grundsätze der Tätigkeit des Nationalen Verteidigungsrates, wählt aber nur dessen Vorsitzenden (Art. 49 Abs. 3 S. 2, Art. 50). Mit der Volkskammer als Basis bilden sie die oberste Stufe der Staatsorgane. Nach dem Lehrbuch »Staatsrecht der DDR« (S. 274) werden die Beziehungen zwischen den Volksvertretungen - von der Volkskammer bis zu den Gemeindevertretungen - nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus (Art. 47 Abs. 2, s. Rz. 7-14 zu Art. 2) geregelt. Das äußert sich staatsrechtlich in folgendem: 1. Die Entscheidungen der Volkskammer sind für alle anderen Volksvertretungen verbindlich. 2. Die nachgeordneten Volksvertretungen sind verpflichtet, vor den übergeordneten über die Erfüllung der Beschlüsse Rechenschaft abzulegen. 3. Die übergeordneten Volksvertretungen haben das Recht und die Pflicht, Beschlüsse der nachgeordneten Volksvertretungen aufzuheben, wenn diese gegen Gesetze, andere Rechtsvorschriften oder Beschlüsse der höheren Volksvertretungen verstoßen. (Die übergeordneten Räte sind befugt, derartige Beschlüsse bis zur Entscheidung der übergeordneten Volksvertretung auszusetzen.) 4. Die nachgeordneten Volksvertretungen haben das Recht, an der Ausarbeitung von Entscheidungen der übergeordneten Volksvertretungen mitzuwirken, welche die materiellen, kulturellen und sozialen Bedürfnisse der Bürger ihres Territoriums berühren.
17 b) Die Staatsorgane auf örtlicher Ebene werden in der Verfassung nur generell bezeichnet. Die Organe auf örtlicher Ebene, deren personelle Zusammensetzung von den örtlichen Volksvertretungen bestimmt wird, sind die Räte (Art. 83) und die Gerichte, letztere soweit ihre Mitglieder nicht unmittelbar vom Volke gewählt werden (Art. 95). Die Räte sind der jeweiligen Volksvertretung verantwortlich und dem jeweiligen übergeordneten Rat rechenschaftspflichtig (Art. 83 Abs. 2 S. 2). Die Mitglieder der staatlichen und gesellschaftlichen Gerichte sind zur Berichterstattung vor den Wählern, das heißt auch vor den Volksvertretungen, wenn diese Kreationsorgane sind, verpflichtet (Art. 95) und der Leitung der Rechtsprechung durch das Oberste Gericht, das wiederum in Verantwortlichkeit vor dem Staatsrat und der Volkskammer tätig ist, unterworfen (Art. 93 Abs. 3). Die Räte auf örtlicher Ebene sind seit 1952 die Räte der Bezirke, der Kreise, der Städte, der Stadtbezirke, der Gemeinden. Die staatlichen Gerichte auf örtlicher Ebene sind die Bezirksgerichte und die Kreisgerichte. Auf unterster Ebene sind die gesellschaftlichen Gerichte (Konfliktkommissionen, Schiedskommissionen) tätig (Art. 92).
18 c) Zum System der Staatsorgane rechnen ferner als Teil der Gerichtsbarkeit die Militärobergerichte und die Militärgerichte sowie die Staatsanwälte der Bezirke und Kreise und die Militärstaatsanwälte. Obwohl diese Organe auf unteren Ebenen tätig sind, werden sie nicht von den örtlichen Volksvertretungen gewählt. Die Richter der Militärobergerichte und Militärgerichte werden auf Vorschlag des Ministers für Nationale Verteidigung vom Nationalen Verteidigungsrat gewählt [Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Aufgaben, Zuständigkeit und Organisation der Militärgerichte (Militärgerichtsordnung) vom 27.9.1974 (GBl. DDR Ⅰ 1974, S. 481)], die Staatsanwälte vom Generalstaatsanwalt berufen (Art. 98 Abs. 2).
20 e) Das System der Staatsorgane bildet trotz seiner Vielgestaltigkeit eine Einheit, weil die Vielzahl seiner Elemente so miteinander in Beziehung gesetzt ist, daß alle Elemente von einem Element abhängig sind. Dieses eine Element ist die Volkskammer, in Art. 48 Abs. 1 als das oberste Machtorgan der DDR bezeichnet. Im gesamtgesellschaftlichen System (s. Rz. 15-19 zu Art. 2) ist das System der Staatsorgane ein Teilsystem mit weiteren Subsystemen, z. B. in Gestalt der örtlichen Organe der Staatsmacht im Bezirk, Kreis, in der Stadt, im Stadtbezirk und in der Gemeinde, das den Subsystemen gegenüber als Gesamtsystem erscheint.
III. Das Strukturprinzip der Gewalteneinheit
1. Gewalteneinheit vor der Verfassung von 1968/1974
21 a) Das neben dem Prinzip des demokratischen Zentralismus (Art. 47 Abs. 2, s. Rz. 7-14 zu Art. 2) die Struktur der Staatsorganisation bestimmende Prinzip der Gewalteneinheit (Gewaltenkonzentration) galt schon für die Verfassung von 1949. In ihr fand es seinen Ausdruck in Art. 50, der die Volkskammer zum höchsten Organ der Republik erklärte. Schon bei der Vorbereitung dieser Verfassung spielte die Auseinandersetzung mit der Gewaltenteilungslehre eine Rolle. Einer ihrer schärfsten Gegner war Karl Polak, bis zu seinem Tode im Jahre 1963 der führende Staatstheoretiker der DDR, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter des ZK der SED und Mitglied des Staatsrates die verfassungsrechtliche Entwicklung der DDR maßgeblich beeinflußt hat. In der 5. Sitzung des »Deutschen Volksrates« wies Otto Grotewohl am 22. 10. 1948 daraufhin, daß der Entwurf zur Verfassung von 1949 die Gewalteneinheit vorsah. »Wir brachen damit zugleich mit dem für die deutsche Demokratie so verhängnisvollen Prinzip der Dreiteilung der Gewalten, das die Rechte des Volkes nur auf die Wahl der Volksvertretungen und deren Mitwirkung an der Gesetzgebung beschränkte, dagegen die ganze staatliche Exekutive - also die Regierungsgewalt und Verwaltung und auch die Rechtsprechung - jeglicher Einflußnahme durch die Volksvertretung entzog. Die Volksvertretung wird dem Staatsapparat übergeordnet, und zwar sowohl der Regierung und Verwaltung wie auch der Justiz« (Im Kampf um die einige deutsche demokratische Republik, Band I, S. 274/275).
22 b) Reste der Gewaltentrennung. Indessen war die Gewaltenkonzentration nach dem Text der Verfassung von 1949 noch nicht total. Sie wurde in horizontaler Hinsicht durch die Unabhängigkeit der Richter, die ohne eine einschränkende Formulierung verbrieft wurde, und vertikal durch einen Rest von Eigenständigkeit der Länder und die Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände (Art. 139-143) gemindert. Das die Gewalteneinheit ergänzende Strukturprinzip des demokratischen Zentralismus bestimmte damals nicht die Struktur der formellen Rechtsverfassung. Karl Polak meinte 1949 dazu, mit der in der Verfassung fixierten einheitlichen Staatsgewalt des souveränen Volkes sei ein »sehr beträchtlicher Schritt« zur Beseitigung der bürgerlichen Gewaltenteilungslehre gemacht worden (Volk und Verfassung, S. 31). Nach seiner Ansicht war die Gewalteneinheit also noch keineswegs erreicht. Hans Leichtfuß/Karl-Heinz Schöneburg (Volkssouveränität und Geschichte unserer Arbeiter-und-Bauern-Macht, S. 1701) glaubten noch für das Jahr 1956 Nachwirkungen der Gewaltenteilungslehre feststellen zu können.
23 c) Durch die Abschaffung der Länder, die Beseitigung der kommunalen Selbstverwaltung und die Einführung des demokratischen Zentralismus im Zuge der Verwaltungsreform des Jahres 1952 sowie durch die Anleitung und Kontrolle der mittleren und unteren Gerichte durch das Ministerium der Justiz, die, stets praktiziert, in der Novelle vom 1.10.1959 [§ 15 Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 1.10.1959 (GBl. DDR Ⅰ 1959, S. 753)] zum zum GVG vom 2.10.1952 [Gesetz über die Verfassung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik (Gerichtsverfassungsgesetz) v. 2.10.1952 (GBl. DDR 1952, S. 983)] gesetzlich verankert wurden, wurde die Gewalteneinheit so verstärkt, daß die materielle Rechtsverfassung, wie sie bis zum Erlaß der Verfassung von 1968 bestand, völlig in ihrem Zeichen stand.
2. Rechtfertigung der Gewalteneinheit
24 a) In der marxistisch-leninistischen Staatstheorie wird die Gewalteneinheit gegen die Gewaltenteilung oder sogar gegen die Gewaltendifferenzierung unter Berufung auf Jean-Jacques Rousseau verteidigt. Es wird die Meinung vertreten, jede Form der Gewaltenbeschränkung widerspreche der Volkssouveränität. Die tatsächlich bestehenden Spannungen zwischen den Vorstellungen Montesquieus und Rousseaus scheinen eindeutig zugunsten des letzteren gelöst zu werden. Indessen wird auch Rousseau von der Kritik nicht verschont. Diese geht von dem spezifischen Begriff der Volkssouveränität in der marxistisch-leninistischen Staatslehre aus (s. Rz. 1-6 zu Art. 2). Es müsse betont werden, schrieb Eberhard Poppe (Jean-Jacques Rousseaus Volkssouveränitätslehre ..., S. 1704/1705), daß zwischen Rousseaus Ideen und der Forderung nach Volkssouveränität, wie sie von Marx und Engels erhoben werde und im Sozialismus Wirklichkeit würde, keine Identität und auch kein evolutionärer Entwicklungsprozeß bestehe. Die Forderung von Marx und Engels nach Volkssouveränität sei der Bruch mit allen bisherigen Ideen über Gesellschaft, Staat und Recht, sei Ausdruck dafür, daß die Ausbeuterordnung, ihr Staat, ihr Recht und ihre Ideologie zerschlagen und an ihrer Stelle der Sozialismus auf revolutionärem Wege erreicht werden müsse. Diese Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus hätten die Werktätigen der DDR unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei verwirklicht und damit auch die echte Souveränität des Volkes. Nach Walter Ulbricht (Die Rolle des sozialistischen Staates ...) ist die Machtkonzentration in den Händen der gewählten Volksvertretungen und ihre enge lebendige Verbindung mit den Werktätigen und ihren Kollektiven Entwicklungsbedingung der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung und bleibt es. Auf der Grundlage dieser Volkssouveränität erfolge die demokratische Leitung aller staatlichen Verwaltungsorgane und der Justiz.
25 b) Die kritische Analyse zeigt, daß die Suprematie der SED im Staatsapparat ohne die Gewalteneinheit nicht möglich wäre. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß diese Partei über die nach ihren Wünschen zusammengesetzten Volksvertretungen die anderen Staatsorgane ohne Ausnahme in den Griff bekommt. Sie besetzt diese nach ihren Wünschen personell, gibt ihnen die Richtlinien für die Tätigkeit und hält sie unter ihrer Kontrolle. Es erhellt, daß die Gewalteneinheit ebenso wie der demokratische Zentralismus Strukturprinzip des sozialistischen Staates ist.
26 c) Verteidigung der Gewalteneinheit. Die Staatsrechtler der DDR zeigen sich gegenüber der Kritik am Prinzip der Gewalteneinheit auffällig empfindlich. Sie wittern hier offenbar eine Einbruchstelle, mittels derer die Suprematie der SED ins Wanken geraten könnte. Diese Empfindlichkeit wurde durch die Bestrebungen der Reformpolitiker in der CSSR genährt, die in ihrem Lande die Macht der Staatsorgane begrenzen und damit auch die Macht der KPC einschränken wollten - Bestrebungen, die freilich als Folge der Invasion von fünf Warschauer-Pakt-Mächten zunichte gemacht wurden. Schon vor dem Einmarsch wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur der DDR gegen Auffassungen polemisiert, die in der CSSR vertreten wurden. So wandte sich Karl-Heinz Schöneburg (Verfassung und Gesellschaft, S. 183) gegen den tschechischen Juristen V. Klokogka, der Einrichtungen zur Begrenzung und Kontrolle der politischen Macht auch im Sozialismus gefordert hatte. Ernst Gottschling (Klassendiktatur und Teilung der Gewalten, S. 7/8) sieht vier Gründe für das »Eindringen der bürgerlichen Gewaltenteilungsideologie« in den Sozialismus: 1) Weil der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsphase in der Entwicklung sei, entstehe die irrige Schlußfolgerung, nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse müsse ein »ganz neues Modell des Sozialismus« kommen. 2) Die sozialistische Menschengemeinschaft mit ihrer Annäherung der anderen Klassen und Schichten an die Arbeiterklasse werde fälschlicherweise als eine Annäherung an den Zustand klassenloser Harmonie, allgemeinmenschlicher Eudämonie, im Sinne »reiner Demokratie« ohne Klassendiktatur aufgefaßt. 3) In Analogie der industriellen Arbeitsteilung, wie sie insbesondere die wissenschaftlich-technische Revolution erfordere, werde irrtümlich davon ausgegangen, daß sich die staatliche Verwaltung unabhängig vom Charakter der Produktionsverhältnisse vollziehe, das führe zu einer schädlichen Entpolitisierung und Entideologisierung der Verwaltung, zu ihrer Verselbständigung von den politischen Entscheidungen der Volksvertretungen. 4) Die Möglichkeit und Notwendigkeit einer breiten antiimperialistischen Volksfront in den kapitalistischen Ländern, die Notwendigkeit, hier bürgerlich-demokratische Freiheiten zu verteidigen und auszunutzen, verführten diesen oder jenen dazu, die Unversöhnlichkeit zwischen bürgerlicher und sozialistischer Staatlichkeit abzuschwächen, die »Errungenschaften« kapitalistischer Staatlichkeit in den Sozialismus einbauen zu wollen, um angeblich nicht sektiererisch zu erscheinen, um angeblich den Sozialismus auch für Westeuropa »attraktiv« zu machen. Alle vier Gründe können in kritischer Sicht letztlich auf das Bedürfnis der Menschen zurückgefuhrt werden, Schutz vor der Allmacht des sozialistischen Staates und der ihn dirigierenden marxistisch-leninistischen Partei zu finden. Ein Mittel dazu ist die Verteilung der Staatsgewalt auf unabhängig voneinander gestellte Staatsorgane, wobei die Zahl drei der klassischen Gewaltenteilungslehre nur eine untergeordnete Rolle spielt. Entscheidend für die Stellung des einzelnen zur Staatsmacht ist, daß kein Staatsorgan ohne Kontrolle nach dem Maßstab des Rechts tätig sein kann. Sicher bleibt die Frage: »Quis custodiet custodes?« auch dann noch offen. Perfekte Lösungen werden sich wahrscheinlich niemals erreichen lassen. Aber dem einzelnen ist schon viel genützt, wenn er Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte gegen die Verwaltung erhält. (Auf die Problematik des Rechtsschutzes gegen Akte des Gesetzgebers, gegen den auch einige Anhänger der parlamentarischen Demokratie Bedenken haben und dessen Fehlen diese mit dem Rechtsstaat vereinbar halten, braucht hier nicht eingegangen zu werden.)
27 d) Ausdruck der Gewalteneinheit ist aber, daß der Rechtsschutz gegen Akte der Verwaltung nicht gewährt wird. Die Verfassung von 1968/1974 hat daran nichts geändert. Sie eröffnet zwar in Art. 103 einen Beschwerdeweg, aber dieser führt nicht zu den Gerichten. Nicht einmal die Staatshaftung des Art. 104 kann vor den Gerichten geltend gemacht werden [Gesetz zur Regelung der Staatshaftung in der Deutschen Demokratischen Republik - Staatshaftungsgesetz - vom 12.5.1969 (GBl. DDR Ⅰ 1969, S. 34)]. Walter Ulbricht (Die Rolle des sozialistischen Staates ...) wandte sich nochmals gegen die Errichtung von Verwaltungsgerichten. Es muß daher die Kritik aufrechterhalten werden, daß die Gewalteneinheit den Prinzipien des Rechtsstaates widerspricht. Der Vorwurf, diese Kritik beweise nur Unvermögen, die engen Grenzen des bürgerlichen Rechtshorizontes zu sprengen, die sozialistische Demokratie sei nicht an überkommenen bürgerlichen Demokratievorstellungen, nicht an geschichtlich längst überlebten Rechtsformen meßbar (so Gert Egler/Wilhelm Hafemann/Lucie Haupt, Zum Aufbau und System der staatlichen Leitung, S. 546, gegen den Verfasser dieses Kommentars), oder der andere, das begriffliche Instrumentarium bürgerlicher Ostforscher sei gänzlich ungeeignet, um die in den sozialistischen Ländern vor sich gehenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erfassen und deuten zu können (so Ernst Gottschling gegen Dietrich Müller-Römer), sind nicht geeignet, diese Kritik zu entkräften, da sie sachliche Argumente nicht enthalten und am Wesentlichen geflissentlich Vorbeigehen.
28 e) Polemik gegen die Kritik. Ebensowenig wird die Vereinbarkeit der Gewalteneinheit mit dem Rechtsstaat überzeugend verteidigt, wenn gegen das Prinzip der Gewaltenteilung heftige Angriffe geführt werden. Dabei spielt die Frage der Vereinbarkeit mit dem Prinzip der Volkssouveränität keine Rolle, weil es bei ihr um das Problem der Demokratie und nicht des Rechtsstaates geht. (Egler/Hafemann/Haupt, a.a.O., S. 546, verkennen bei ihrer Polemik gegen den Verfasser, daß er in seinem Aufsatz in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« nicht von der Unvereinbarkeit der Gewalteneinheit mit der Demokratie, sondern von ihrer Unverträglichkeit mit dem Rechtsstaat gesprochen hatte, obwohl sich dieses klar aus der von ihnen zitierten Stelle in dem Artikel des Verfassers ergibt.) Die Argumentation der marxistisch-leninistischen Staatsrechtler geht dahin, daß die Gewaltenteilungslehre nur eine »Feigenblattheorie« (Emst Gottschling) sei, die die Machtkonzentration in den Händen der vom Monopolkapitalismus abhängigen Regierung verhüllen solle. »Getarnt wird diese Machtkonzentration bei der Regierung durch die angebliche Begrenzung der Staatsgewalt durch die gesetzgebende und die richterliche Gewalt. Diese Dreiteilung der Gewalten erweckt bei großen Teilen der Bevölkerung die Illusion, daß ein angeblich von der exekutiven Gewalt unabhängiges Gericht ihre Grundrechte vor Übergriffen der Exekutivgewalt schütze. Diese Illusion ist durch die Praxis längst widerlegt: Die Konzentration der Macht in den Händen einer reaktionären, gegen das Volk und seine Interessen gerichtete Regierung führt zum Abbau und nicht zur Wahrung des Grundrechts der Bürger« (Gert Egler/Wilhelm Hafemann/Lucie Haupt, a.a.O., S. 547). Es braucht nicht der Nachweis geführt zu werden, daß die Wirklichkeit anders aussieht, als von den Autoren dargestellt wird. Hier braucht auch nicht darauf eingegangen zu werden, daß die Gewaltenteilung nicht ohne Problematik ist. Entscheidend ist, daß die genannten Autoren meinen, eine Machtkonzentration könne zur Verkümmerung des Grundrechtsschutzes führen. Die Ansicht, das sei stets der Fall, wenn die Macht in den Händen einer »reaktionären« Regierung vereinigt sei, nicht dagegen, wenn sie sich in den Händen der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei befinde, geht von der Prämisse aus, daß diese Partei immer nur das Gemeinwohl verfolgt, mit dem die Interessen der einzelnen im Grundsatz übereinstimmen, und einer Kontrolle nicht bedarf (s. Rz. 41 ff. zu Art. 2 und Erl. zu Art. 4).
3. Die unterschiedlichen Staatstätigkeiten
29 a) Die Gewalteneinheit bedeutet nicht, daß es nicht unterschiedliche Staatstätigkeiten gebe. Es ist zwar nicht möglich, wie Boris Meissner (Die Rechtsstellung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, S. 14) für die UdSSR gezeigt hat, von Staatsorganen auf bestimmte Staatstätigkeiten zu schließen. Empirisch läßt sich aber zunächst die Funktionsfreiheit der klassischen Gewaltenteilungslehre feststellen: Normsetzung, Vollziehung und Rechtsprechung. Karl Polak schrieb im Jahre 1946 (Gewaltenteilung, Menschenrecht, Rechtsstaat) zu den kommunistischen Verfassungsplänen: »Wenn wir den Grundsatz der Gewaltenteilung aufgeben, so ist damit keineswegs gesagt, daß wir aufhören, scharf zwischen den drei verschiedenen Staatsfunktionen: Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz zu unterscheiden. Jede moderne Verwaltung wird auf dieser Unterscheidung aufbauen.« Bei der Vollziehung kann empirisch weiter unterschieden werden zwischen Regierung (gouvernement) im Sinne einer obersten Leitungsgewalt und Verwaltung (administration). Es können in einem sozialistischen Staate von der Verwaltung noch weitere Staatstätigkeiten abgesondert werden. So kann als besondere Staatstätigkeit die Planung angesehen werden, als eine Funktion, die auf die Regelung des Totalablaufs eines künftigen Geschehens geht. Sie setzt bestimmte Schwerpunkte und umfaßt ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen zur Erreichung des Planzweckes (Max Imboden/Klaus Obermayer auf der Tagung der deutschen Staatsrechtslehrer zu Erlangen). Da die Leitung und Planung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu den unantastbaren Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung gerechnet wird (s. Rz. 29 zu Art. 2), ist sie als Staatstätigkeit von hervorragender Bedeutung. Sie findet in einem konkreten Gebilde ihren aus-druck: dem Plan. Dieser ist allgemeinverbindlich, sobald er von dem dafür zuständigen Organ beschlossen ist, und hat daher mit einem Rechtsnormenwerk manches gemeinsam. Indessen ist die Koordinierung der Einzelakte bei ihm anders. Auch ist der Plan stets terminiert, Rechtsnormen sind es dagegen nur ausnahmsweise.
30 Als eine weitere Staatstätigkeit kann die Kontrolle erkannt werden. Georg Brunner, der sich mit dieser eingehend beschäftigt hat (Kontrolle in Deutschland), bezeichnet sie zwar als »Nebenfunktion« (a.a.O., S. 74), zeigt aber eindrucksvoll, welche Bedeutung und welchen Umfang die Kontrolle in der DDR hat (a.a.O., S. 359ff.). Auch in der DDR-Li-teratur ist sie Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen geworden (Doris Urban, Kontrolle in der Leitungstätigkeit des sozialistischen Staates; Lehrbuch »Staatsrecht der DDR«, insbesondere S. 371 ff., 399£, 407ff., 411 ff., 468ff., 485 ff.). Die Kontrolle dient dazu nachzuprüfen, ob überall nach für die Staatsorganisation maßgeblichen Grundsätzen gehandelt wird. Dazu gehört auch die richtige Anwendung des positiven Rechts, die Einhaltung der »sozialistischen Gesetzlichkeit« (s. Erl. zu Art. 87). Sie ist aber niemals gegen die Führung der marxistisch-leninistischen Partei und auch niemals als Normenkontrolle gegen den Gesetzgeber gerichtet. Wie alle Staatstätig-keiten wird sie nicht von Staatsorganen ausgeübt, die dem obersten Organ gegenüber unabhängig sind.
31 b) Die Gewalteneinheit führt dazu, daß nicht nur alle Staatsorgane hierarchisch zueinander geordnet sind, sondern daß eine hierarchische Ordnung auch für die Staatstätigkeiten gilt. Das Fällen politischer Entscheidungen ist ausschließlich Sache der politischen Führungsspitze in Gestalt der Führung der marxistisch-leninistischen Partei, in der DDR also des Politbüros der SED, während ZK und Parteitag nur Stätten der Akklamation und vielleicht in begrenztem Umfange der Beratung sind. Innerhalb des politischen Systems liegt also dort die Regierung im funktionalen Sinne. Soweit die politischen Entscheidungen der Partei die Tätigkeit der Staatsorganisation betreffen, werden sie durch ein oberstes Organ aufgenommen. In diesem eingeschränkten Sinne kann auch in der Staatsorganisation von der Funktion einer Regierung gesprochen werden (s. Rz. 17 zu Art. 66 und 14-21 zu Art. 76). Die marxistisch-leninistische Staatslehre spricht von »staatlicher Leitungstätigkeit«. Sie schließt auch, soweit nicht verfassungsrechtliche oder gesetzliche Regelungen vorliegen, die Kompetenz ein, die Staatsorganisation zu verändern, also die Organisationsgewalt. Normsetzung und Verwaltung sollen nach der marxistisch-leninistischen Staatstheorie eine Einheit bilden. Auf W. I. Lenin (Staat und Revolution, S. 192) wird der Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung zurückgeführt, der in Art. 48 Abs. 2 S. 2 verankert ist. Weil die Volksvertretungen trotz ihrer angeblichen Eigenschaft als »arbeitende« Körperschaften (im Unterschied zu den »Schwatzbuden« der parlamentarischen Demokratie) nicht alles selbst tun könnten, seien sie auf die Exekutivorgane angewiesen. Zwischen Verwaltung und Rechtsprechung bestehen starke Gemeinsamkeiten. Beide Staatstätigkeiten sollen dem Gesetzesvollzug dienen und sind an die Interpretation der Verfassung und der Gesetze durch die obersten Machtorgane (s. Rz. 17-22 zu Art. 89) gebunden. Beide Staatstätigkeiten werden von Organen ausgeführt, deren personelle Besetzung von den durch die marxistisch-leninistische Partei okkupierten Volksvertretungen abhängt und die von diesen »geleitet« bzw. »angeleitet« werden. Indessen gestaltet die Verwaltung in der Regel und trifft generell wirksame Entscheidungen. Die Rechtsprechung entscheidet grundsätzlich über bereits abgeschlossene Tatbestände, und ihre Entscheidungen wirken grundsätzlich nur zwischen den am Verfahren Beteiligten. Jedoch wollen die Gerichte auch auf die allgemeinen Wirkungen ihrer Entscheidungen bedacht sein (s. Rz. 7-12 zu Art. 90).
4. Die Wiederentdeckung des Verwaltungsrechts
32 Bis 1958 wurde in der DDR nicht bestritten, daß das Verwaltungsrecht einen besonderen Rechtszweig bildet. Es gab sogar ein entsprechendes Lehrbuch (Karl Bönninger u.a., Das Verwaltungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, Allgemeiner Teil). Auf der staats- und rechtswissenschaftlichen Konferenz in Potsdam-Babelsberg im Jahre 1958 wandte sich Walter Ulbricht (Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre Anwendung in Deutschland, S. 640) heftig dagegen, von einem spezifischen Verwaltungsrecht der DDR zu sprechen, weil das zu einem formal-juristischen Verhalten der Mitarbeiter des Staatsapparates fuhren würde und die Trennung von Staats- und Verwaltungsrecht ein »bürgerliches« Prinzip sei, das so bald wie möglich aufgegeben werden müsse. In der rechtswissenschaftlichen Literarur (Willi Büchner-Uhder/Rudolf Hieb linger/Wolfgang Menzel, Voraussetzungen für ein Lehrbuch des Staatsrechts der Deutschen Demokratischen Republik schaffen) wurde sodann die Meinung vertreten, daß aus dem Prinzip der Gewalteneinheit folge, das Verwaltungsrecht könne neben dem Staatsrecht kein selbständiger Rechtszweig sein. In der Folgezeit wurde vom »Recht der staatlichen Leitung und Organisation« gesprochen, freilich als einem Teil des Staatsrechts. Die Verwaltungslehre wurde unter »Organisationswissenschaft« oder »Leitungswissenschaft« begriffen. Seit dem VIII. Parteitag der SED (15.-19.6.1971) wurde dann das Verwaltungsrecht als selbständiger Rechtszweig wiederentdeckt (zur Entwicklung: Uwe Ziegler, Zur Diskussion um Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR; Hans-Christian Reichel, Die Wiedereinführung des Verwaltungsrechts als selbständige Rechtsdisziplin in der Rechtswissenschaft der DDR). Reichel verdient in der Ansicht Zustimmung, daß für diese Entwicklung neben sachlichen Gründen vor allem das Beispiel der Sowjetunion maßgebend war, wo nie daran gezweifelt worden war, daß das Verwaltungsrecht ein selbständiger Rechtszweig ist. Karl Bönninger (Die Rechtsverhältnisse der Bürger zu den staatlichen Einrichtungen des kulturellen und sozialen Bereichs) spricht von besonderen Verwaltungsrechtsverhältnissen. Freilich bestehen über die Abgrenzung zwischen Staats- und Verwaltungsrecht immer noch Meinungsverschiedenheiten. So rechnet das Lehrbuch »Staatsrecht der DDR« die Stellung und die Verantwortlichkeit der Mitarbeiter in den Staatsorganen zum Staatsrecht (S. 437 ff.), obwohl sie wohl richtiger in das Verwaltungsrecht einzuordnen wären. Im Jahre 1979 erschien sodann ein Lehrbuch »Verwaltungsrecht«. Es enthält erhebliche Überschneidungen mit dem Lehrbuch »Staatsrecht der DDR«.
IV. Die Teilnahme der Bürger an der Tätigkeit der Staatsorgane
1. Formen der Teilnahme
33 a) Die Pflicht der Volksvertretungen, sich in ihrer Tätigkeit auf die aktive Mitgestaltung der Bürger an der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle ihrer Entscheidungen zu stützen (Art. 5 Abs. 2 Satz 2) ist ein Gegenstück des Rechts jedes Bürgers zur »umfassenden Mitgestaltung« des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens der sozialistischen Gemeinschaft (Art. 21 Abs. 1). Die »Mitwirkung« (zur Abgrenzung der Begriffe »Mitbestimmung«, »Mitgestaltung«, »Mitwirkung« s. Rz. 4 zu Art. 21) an der Tätigkeit der »Machtorgane«, also der Volksvertretungen, soll das Recht des Bürgers auf »Mitbestimmung und Mitgestaltung« gewährleisten (Art. 21 Abs. 2).
34 b) Beratung und Kontrolle. Art. 5 Abs. 2 Satz 2 sieht nur eine Beteiligung der Bürger an der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle der Entscheidungen der Volksvertretungen vor, nicht jedoch an den Entscheidungen selbst. Die Mitgestaltung der Bürger ist also sogar nach dem Text der Verfassung nicht von konstitutiver Bedeutung für die Entscheidungen der Volksvertretungen. Die Entscheidungen liegen allein bei diesen. Die Beteiligung der Bürger beschränkt sich auf Tätigkeiten vor und nach den Entscheidungen. Vor den Entscheidungen besteht sie in der Beratung als Vorbereitung der Entscheidungen. Nach der Entscheidung ist Gegenstand der Tätigkeit der Bürger die Durchführung und Kontrolle der Entscheidungen. Da für die Volksvertretungen selbst der Grundsatz der Einheit der Beschlußfassung und Durchführung gilt (so für die Volkskammer Art. 48 Abs. 2 Satz 3), und, weil die Volksvertretungen nur in seltenen Fällen selbst Adressaten ihrer Entscheidungen sind, die Durchführung regelmäßig in der Kontrolle der Durchführung (s. Rz. 17,18 zu Art. 49) seitens der Adressaten besteht, kann die Tätigkeit der mitgestaltenden Bürger nur in einer Hilfstätigkeit für die Volksvertretungen bei der Kontrolle bestehen.
35 c) Obwohl Beratung und Kontrolle nur Hilfstätigkeiten sind, darf ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden. Durch sie wird die Funktionstüchtigkeit des Herrschaftssystems erhöht. Zumindest wird das erwartet, tiller die Beratung können Ansichten von Fachleuten für die Entscheidung nutzbar gemacht werden. Die Abgeordneten können, insbesondere in den Ausschuß- oder Kommissionssitzungen, über Sachzusammenhänge und ihre Konsequenzen auf nicht allgemein bekannten, dem Durchschnittsbürger fernerliegenden Wissensgebieten belehrt werden. Die Entscheidungen der Volksvertretungen haben, soweit sie von der Führung der marxistisch-leninistischen Partei noch nicht vorgeformt sind, die Chance, sachgerechter zu werden, als ohne den Besitz der notwendigen Kenntnisse. Außerdem wird ein psychologischer Effekt erzielt, indem durch die Beratung das Gefühl erzeugt wird, an der Entscheidung beteiligt zu sein, auch wenn dem Rat nicht gefolgt wird. Freilich wird dieser Effekt, der geeignet ist, die Integration der Beherrschten in das Herrschaftssystem zu fördern, in erster Linie im örtlichen, das heißt vom einzelnen überschaubaren Bereich erzielt werden können, wo der einzelne eine größere Chance hat, an Beratungen beteiligt zu werden. Die Bedeutung der Heranziehung von Bürgern zum Zwecke der Kontrolle der Durchführung von Entscheidungen der Volksvertretungen liegt deutlicher zutage. Durch sie kann die Effektivität von Entscheidungen sicher erhöht werden. Nach der Präambel des Wahlgesetzes von 1976 [Gesetz über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - vom 24.6.1976 (GBl. DDR Ⅰ 1976, S. 301) i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten (3. Strafrechtsänderungsgesetz) vom 28.6.1979 (GBl. DDR Ⅰ 1979, S. 139)] soll die Tätigkeit der Volksvertretungen durch die immer umfassendere und sachkundigere Teilnahme der Werktätigen und ihrer Kollektive an der Leitung und Planung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung, an der Vorbereitung, Durchführung und Kontrolle der Gesetze und staatlichen Entscheidungen geprägt sein.
2. Beteiligung der Bürger im einzelnen
36 Die Beteiligung von Bürgern an der Arbeit der Volksvertretungen ist nur zum Teil normativ geregelt.
»Der Vorsitzende des Staatsrates, Walter Ulbricht, wies bereits auf der 2. und 9. Tagung des Zentralkomitees der SED und im Zusammenhang mit der Begründung der sozialistischen Verfassung vor der Volkskammer daraufhin, daß die Entscheidungen der Volkskammer über die Grundfragen der Staatspolitik immer mehr den Charakter wissenschaftlich fundierter, allseitig abgewogener, prognostisch begründeter Systementscheidungen gewinnen. Das erfordert ein Höchstmaß an Informationen und eigenem Einblick in zum Teil komplizierte Materien, auf deren Grundlage dann die souveräne Entscheidung der Plenartagung erfolgt« (Neues Deutschland vom 13.5.1969). Bisher ist von dieser Befugnis des Präsidiums jedoch nicht Gebrauch gemacht worden.
38 b) Ohne gesetzliche Grundlage ließ der Staatsrat in den Jahren 1968 und 1969 (13. und 17. Sitzung) eingeladene Gäste zu Worte kommen, die sach- und fachkundige Beiträge zu den Beratungsgegenständen leisten konnten. Nach dem Funktionsverlust des Staatsrates nach der Ablösung Walter Ulbrichts von der Funktion als Erster Sekretär des ZK der SED (s. Rz. 20 zu Art. 66) wurden derartige Einladungen nicht wiederholt.
40 d) Auch in den Ausschüssen der Volkskammer und den ständigen und zeitweiligen Kommissionen der örtlichen Volksvertretungen sind Personen tätig, die nicht Abgeordnete sind. Eine Regelung, die nicht als Abgeordnete gewählten Personen eine Stellung gibt, die über eine beratende und kontrollierende Funktion hinausgeht, enthält § 29 Abs. 2 GO der Volkskammer. Ihm zufolge nehmen an der Tätigkeit der Ausschüsse die Nachfolgekandidaten, das sind die Kandidaten, die zwar auf der Einheitsliste der Nationalen Front verzeichnet waren, aber nicht an einer Stelle, mit der sie schon Abgeordnete wurden, entsprechend den Festlegungen der Volkskammer teil. Sie üben ihre Tätigkeit als »Mitglieder« aus. Nach Art. 61 Abs. 3 und § 29 Abs. 3 GO haben die Ausschüsse ferner das Recht, Fachleute zur ständigen oder zeitweiligen Mitarbeit heranzuziehen. Deren Funktion ist lediglich konsultativer Natur. Sie haben bei der Beschlußfassung der Ausschüsse über Vorschläge, Empfehlungen und Stellungnahmen kein Stimmrecht. Auf der örtlichen Ebene haben die Kommissionen der Volksvertretungen nach Art. 83 Abs. 3 Satz 1 »die sachkundige Mitwirkung der Bürger bei der Vorbereitung und Durchführung der Beschlüsse der Volksvertretung« zu organisieren. Nach § 14 Abs. 2 GöV sind die Mitglieder der ständigen und der zeitweiligen Kommissionen der örtlichen Volksvertretungen von der Volksvertretung gewählte Abgeordnete und Nachfolgekandidaten sowie von der Volksvertretung berufene Bürger. Die berufenen Mitglieder haben in den Kommissionen die gleichen Rechte und Pflichten wie die Abgeordneten und Nachfolgekandidaten. In den Kommissionen der Bezirkstage müssen zwei Drittel, in den Kommissionen der Kreistage mindestens die Hälfte der Mitglieder Abgeordnete und Nachfolgekandidaten sein. Der Anteil der berufenen Bürger ist also beträchtlich, wenn er auch in den Volksvertretungen höherer Stufen geringer zu sein hat. Denn in den Kommissionen der Städte und Gemeinden darf der Anteil der Abgeordneten und Nachfolgekandidaten sogar geringer als die Hälfte sein, so daß die berufenen Bürger überwiegen können. Die Zahl der auf kommunaler Ebene ehrenamtlich tätigen Bürger ist deshalb groß. In den 206 Kommissionen der Bezirkstage wirkten 1981 1 335, in den Kommisssionen der Kreistage 12 875, der Stadtverordnetenversammlungen der Stadtkreise 2 541, der Stadtverordnetenversammlungen der kreisangehörigen Städte und der Gemeindevertretungen 143 131 und der Stadtbezirksversammlungen 1 405, in allen örtlichen Volksvertretungen insgesamt 161 287 Bürger mit (Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR 1980, Kommissionen der örtlichen Volksvertretungen, Bezirkstage: 17.2.1977; übrige Volksvertretungen: 10.11.1979, S. 396).
41 e) Seit dem Erlaß des GöV wird versucht, durch neue Einrichtungen die Verbindung zwischen Volksvertretungen und Bürgern enger zu gestalten. Es sind dies die Abgeordnetengruppen, die Wahlkreisberatungen und die Wahlkreisaktivs. Die Abgeordnetengruppen werden vor allem in Großbetrieben gebildet und umfassen die Abgeordneten der Volksvertretungen aller Stufen, die dort tätig sind. Sie sollen mit den Arbeitskollektiven dieser Betriebe engste Fühlung halten, um einerseits Öffentlichkeitsarbeit gegenüber den Betriebsangehörigen zu leisten und andererseits deren Anregungen für die Arbeit der Volksvertretungen nutzbar zu machen. An den Wahlkreisberatungen nehmen die im jeweiligen Wahlkreis gewählten Abgeordneten der Volkskammer, des Bezirkstages, des Kreistages, der Stadtverordnetenversammlungen und der Gemeindevertretungen sowie die Vorsitzenden der Ausschüsse der Nationalen Front, die Leiter von Betrieben, die Vorsitzenden von LPG, die Direktoren von Schulen und Parteifunktionäre teil. Sie sollen der Information und dem Erfahrungsaustausch dienen. Sie werden nach Wolfgang Bernet (Der Kreistagsabgeordnete, S. 47) vor allem in Landkreisen gebildet. In Großstädten, wie etwa in Leipzig und Dresden, sind Wahlkreisaktivs tätig. Sie sollen »dem effektiveren politischen Zusammenwirken der Volksvertretungen und ihrer Abgeordneten mit den Arbeitskollektiven, den Wohnbezirksausschüssen der Nationalen Front, den Hausgemeinschaften und allen Bürgern« dienen. Darüber hinaus sollen sie aber auch »wesentlich zur Erhöhung der kollektiven Wirksamkeit bei der Realisierung der Politik der Arbeiterklasse und ihrer Partei durch die Koordinierung aller gesellschaftlichen Kräfte in den Wohngebieten« beitragen (Werner Menzer/Oswald Unger, Wahlkreisaktivs - eine Form der Zusammenarbeit ..., S. 1123). Wenn hier auch eine gewisse Verstärkung des konsultativen Elements zu verzeichnen ist, im Ergebnis soll die Suprematie der SED gefestigt werden. Für diese Formen der Zusammenarbeit der Abgeordneten aller Stufen mit sachkundigen Bürgern mit und ohne Funktionen in Staat und Gesellschaft gibt es keine normative Grundlage. Auch ist die Abgrenzung zwischen Wahlkreisberatung, Wahlkreisaktiv und Abgeordnetengruppe nicht klar. Bei Frank Grimm (Engere Verbindung ..., S. 561) erscheinen die Wahlkreisberatungen als Vorform der Wahlkreisaktivs. So wurden 1977 auch in kleineren Städten, z. B. Hoyerswerda, Abgeordnetengruppen gebildet (Roland Naumann, In engem Kontakt ...).
V. Die Monopolisierung der staatlichen Macht bei den verfassungsmäßigen Organen
1. Regelung im Entwurf
42 Im Entwurf der Verfassung bildete Art. 5 Abs. 3 den Art. 89- Des Sinnzusammenhangs wegen ist der jetzige Ort des Satzes besser als vorher gewählt.
2. Sinn des Art. 5 Abs. 3
43 Es kann zweifelhaft sein, ob der im emphatischen Tone gehaltene Satz lediglich eine Feststellung treffen will oder ein Verbot enthalten soll. Im ersten Falle könnte der Sinn des Art. 5 Abs. 3 nur sein, daß die ganze Verfassung so konzipiert ist, daß zu keiner Zeit und unter keinen Umständen andere als die verfassungsmäßig vorgesehenen Organe in der Lage sind, staatliche Macht auszuüben. Der Satz kann aber auch einen anderen Sinn haben. Es kann gemeint sein, daß zu keiner Zeit und unter keinen Umständen andere als die verfassungsmäßig vorgesehenen Organe staatliche Macht ausüben dürfen.
3. Verhältnis der Parteiorgane zu den Staatsorganen
44 Walter Ulbricht (Über die Arbeit mit den Menschen) hatte sich bereits im Oktober 1967 dagegen gewandt, daß Parteiorgane auf mittlerer oder unterer Ebene die Tendenz zeigten, sich anstelle von Staatsorganen zu setzen. Die Ausübung der staatlichen Macht soll allein bei den staatlichen Organen liegen, die Partei lediglich die »politische« Macht ausüben. Gegen derartige Tendenzen kann auch Art. 5 Abs. 3 gerichtet sein. An der Spitze sind freilich die politische Macht und die staatliche Macht so eng miteinander verzahnt, daß in der Gesetzessprache der zusammenfassende Begriff »Partei- und Staatsführung« verwendet wird [Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über Aufgaben und Arbeitsweise der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe unter den Bedingungen des neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft vom 2.7.1965 (GBl. DDR Ⅰ 1965, S. 159)]. Hier wird die Unterscheidung zwischen der von der Gesellschaftsorganisation unter der Suprematie der SED ausgeübten und der von den Staatsorganen ausgeübten Macht aufgegeben. Nach dem VIII. Parteitag der SED (15.6.-19.6.1971) wird der zusammenfassende Begriff allerdings kaum noch verwendet.
4. Besorgnis aus den Erfahrungen der Vergangenheit
45 In Art. 5 Abs. 3 schwingt aber auch die aus den Erfahrungen der Vergangenheit genährte Besorgnis mit, daß der Fall eintreten könnte, in dem die Macht von anderen Staatsorganen ausgeübt wird, als die Verfassung das vorsieht. Im geistigen Hintergrund steht der Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung.
5. Manifestation der Macht
46 Trotz der unklaren Fassung des Verfassungssatzes kann ihm jedoch entnommen werden, daß es dem Verfassungsgeber mit ihm vor allem auf eine Manifestation der Macht der Staatsorgane ankam.
Vgl. Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik mit einem Nachtrag über die Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989 und das Ende der sozialistischen Verfassung, Kommentar Siegfried Mampel, Dritte Auflage, Keip Verlag, Goldbach 1997, Seite 202-220 (Verf. DDR Komm., Abschn. Ⅰ, Kap. 1, Art. 5, Rz. 1-46, S. 202-220).
Dokumentation Artikel 5 der Verfassung der DDR; Artikel 5 des Kapitels 1 (Politische Grundlagen) des Abschnitts Ⅰ (Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung) der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vom 6. April 1968 (GBl. DDR Ⅰ 1968, S. 205) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl. DDR I 1974, S. 435). Die Verfassung vom 6.4.1968 war die zweite Verfassung der DDR. Die erste Verfassung der DDR ist mit dem Gesetz über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949 (GBl. DDR 1949, S. 5) mit der Gründung der DDR in Kraft gesetzt worden.