Das hatte Rückwirkungen auf die Normen der Verfassung, die auf deren Grundsätze und Ziel Bezug nehmen. Das betraf vor allem die Gewährung der klassischen Grundrechte der freien Meinungsäußerung (Art. 27), der Versammlungsfreiheit (Art. 28) und der Vereinigungsffeiheit (Art. 29). Diese standen nicht nur unter einem Gesetzesvorbehalt, sondern waren deshalb immanent beschränkt, weil sie nur "den Grundsätzen der Verfassung gemäß" (Art. 27), "im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung" (Art. 28) oder "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Zielen der Verfassung" (Art. 29) ausgeübt werden durften. Außerhalb der DDR wurde und wird noch zu wenig beachtet, daß nach der bis zur Wende in der DDR herrschenden Meinung über die sozialistische Grundrechtskonzeption so der Inhalt der Grundrechte bestimmt und damit nach klassischem Verständnis auf verfassungsrechtlicher Grundlage bis zur Inhaltslosigkeit ausgehöhlt war. Die Grundrechte der DDR-Verfassung waren so formuliert, daß praktisch die SED mit ihrer Suprematie über das Ausmaß von Wahrnehmung und Ausübung zu entscheiden hatte (s. Erl. zu Art. 19, Rz. 24). Entsprechend war die Praxis. Daß sowohl die Formulierungen der DDR-Verfassung und das auf diesen beruhende Verhalten der Inhaber der politischen Gewalt den allgemein in der Welt außerhalb des kommunistischen Lagers anerkannten Menschenrechten widersprachen, konnten auch die anderslautenden Interpretationsversuche der maßgebenden DDR-Juristen nicht aus der Welt schaffen (Zu nennen ist vor allem Eberhard Poppe, Die DDR und die Menschenrechte, Deutsche Außenpolitik, 1967, S. 1041 ff.). Obwohl die DDR 1974 der Internationalen Konvention über zivile (bürgerliche) und politische Rechte beigetreten war [Bekanntmachung über die Ratifikation der Internationalen Konvention vom 16. Dezember 1966 über zivile und politische Rechte v. 14.1.1974 (GBl. DDR II 1974, S. 57); Bekanntmachung über das Inkrafttreten der Internationalen Konvention vom 16. Dezember 1966 über zivile und politische Rechte vom 1. März 1976 (GBl. DDR ⅠⅠ 1976, S. 108)] und das Anlaß für eine neue Interpretation der Grundrechtsartikel der Verfassung hätte sein können (In diesem Sinne: Siegfried Mampel, Verwirklichung der Menschenrechte in der einfachen Gesetzgebung der DDR?, in: Zieger/Brunner/Mampel/Emacora, Die Ausübung staatlicher Gewalt in Ost und West nach Inkrafttreten der UN-Konvention über zivile und politische Rechte, Band 6 der Reihe “Rechtsstaat in der Bewährung", herausgegeben von der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission, Heidelberg und Karlsruhe 1978, S. 61 ff, hier S. 81/82), war das bis zur Wende nicht geschehen.
Nach der Wende wurde das anders, wie der Beschluß der Volkskammer über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations und Medienfreiheit v. 5.2.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 39) zeigte.
Für die Verfassungswirklichkeit war die Auflösung der Stasi, des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR mit seinen Dienststellen, am 18.11.1989 umbenannt in Amt für Nationale Sicherheit, von großer Bedeutung. Seine Existenz hatte seit Bildung im Jahre 1950 [Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) v. 8.2.1950 (GBl. DDR 1950, S. 95)] die Verfassungswirklichkeit maßgeblich bestimmt (s. Erl. zur Präambel, Rz. 43) (Dazu vor allem: Karl Wilhelm Fricke, Die Staatssicherheit - Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder, 3. aktualisierte und ergänzte Auflage, Köln 1989). Unter dem Druck der Bürgerbewegungen und vor allem des Zentralen Runden Tischs ging die Eliminierung des "Schilds und Schwerts" der SED in einem langsamen, von der Regierung Modrow nur zögernd betriebenen Prozeß vor sich (K.W.F. (= Karl Wilhelm Fricke), Wie kaputt ist das ehemalige MfS?, Deutschland Archiv, 5/1990, S. 655), und niemand weiß, ob nicht im Verborgenen Reste noch heute weiter wirken.
Die ökonomischen Grundlagen der DDR wurden durch eine Verfassungsänderung [Gesetz zur Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 12.1.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 15)] neu gestaltet. Abweichungen von den bis dahin zwingenden Bestimmungen über das Volkseigentum wurden auf der Grundlage eines Gesetzes für zulässig erklärt. Als Ausnahme wurde damit auch Privateigentum an Produktionsmitteln ermöglicht. Gleichzeitig wurde die Gründung von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung durch volkseigene Wirtschaftseinheiten sowie Genossenschaften, Handwerker, Gewerbetreibende und andere Bürger (joint venture) erlaubt [Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung in der DDR v. 25.1.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 16)]. Damit war zwar das sozialistische Eigentum als ein weiteres verfassungsrechtlich verankertes Strukturelement noch nicht beseitigt, jedoch in seiner Wirksamkeit beeinträchtigt. Ein erster Schritt zur Marktwirtschaft hin war getan.
Die nächste Verfassungsänderung beseitigte nach der Beseitigung der Suprematie aus der Verfassung ein weiteres Hindernis für freie, geheime Wahlen unter mehreren Möglichkeiten. Der Artikel über die Nationale Front [Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 20.2.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 59)] wurde aus der Verfassung gestrichen, demzufolge die Parteien und Massenorganisationen alle Kräfte des Volkes zum gemeinsamen Handeln für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu vereinigen hatten. Aus diesem wurde das “Recht“ der Parteien und Massenorganisationen abgeleitet, ihre Wahlvorschläge zu einem gemeinsamen Wahlvorschlag zu vereinen [Zuletzt: § 16 Gesetz über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - v. 24.6.1976 (GBl. DDR Ⅰ 1976, S. 301) i. d. F. des Gesetzes zur Ergänzung des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - v. 3.3.1089 (GBl. DDR Ⅰ 1989, S. 109)]. In der Praxis wurde daraus eine strikt einzuhaltende Pflicht gemacht (s. Art. 22, Rz. 8 und 9). Ferner wurde in der neuen Regelung des objektiven Wahlrechts festgelegt, daß die Wahlen unter öffentlicher Kontrolle stehen sollten. Damit sollten Fälschungen des Wahlergebnisses nach Möglichkeit verhindert werden, die noch bei jeder Wahl vorgenommen worden waren (s. Art. 22, Rz. 46), obwohl das objektive Wahlrecht ohnehin so gestaltet war, daß die Volksvertretungen nach dem Willen der SED zusammengesetzt waren (s. Art. 22, Rz. 49). Die "Volksaussprache" als ein "unverzichtbares sozialistisches Wahlprinzip" wurde getilgt. Das Wahlrecht für Ausländer und Staatenlose zu den kommunalen Volksvertretungen erhielt Verfassungsrang. Die Zahl der Volkskammerabgeordneten wurde von 500 auf 400 herabgesetzt. Die Wahlen sollten hinfort auch "direkt" sein. Dementsprechend wurden Gesetze über die Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 [Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 20.2.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 59)] und über die Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen am 8. Mai 1990 [Gesetz über die Wahlen zu Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen am 6. Mai 1990 v. 6.3.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 99)] erlassen. Auch das Gesetz über Parteien und andere politische Vereinigungen - Parteiengesetz v. 21.2.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 66) konnte auf der Grundlage der Verfassung beschlossen werden.
Durch eine weitere, die vierte, Verfassungsänderung [Gesetz über die Wahlen zur Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik am 18.3.1990 v. 20.2.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 60)] wurde die Zivildienstpflicht eingeführt und dem Wehrdienst gleichgestellt. So wurde die Verordnung über den Zivildienst in der Deutschen Demokratischen Republik v. 20.2.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 79) auf verfassungsrechtlicher Grundlage erlassen.
Die fünfte Verfassungsänderung [Gesetz zur Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 6.3.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 109)] betraf die Stellung des FDGB. Sie wurde in der letzten Sitzung der noch vor der Wende nach einer Einheitsliste 1986 gewählten Volkskammer vor ihrer Neuwahl am 18.5.1990 in ziemlicher Eile beschlossen. Die verfassungsrechtliche Stellung der FDGB, die ihm als Vereinigung der "freien" Gewerkschaften und "umfassenden Klassenorganisation der Arbeiterklasse" eine Monopolstellung unter der Suprematie der SED verliehen hatte, wurde gestrichen. Die Gewerkschaften wurden zu überparteilichen und unabhängigen Vereinigungen erklärt, die bereit und fähig waren, deren Interessen zu vertreten und Forderungen im Arbeitskampf geltend zu machen. Aus der alten Fassung wurde der Satz übernommen, demzufolge niemand die Gewerkschaften in ihrer Tätigkeit einschränken oder behindern durfte, aber durch den wichtigen Zusatz ergänzt, dieses Verbot gelte nur dann, wenn die Tätigkeit der Gewerkschaften rechtmäßig sei. Gleichzeitig wurde das Streikrecht der Gewerkschaften gewährleistet. Ein Schadenersatz bei Arbeitskämpfen wurde ausgeschlossen, jede Form der Aussperrung verboten. Bemerkenswert für den damaligen Stand der Verfassungsentwicklung war, daß es erreicht worden war, das Wort "sozialistisch" aus dem Verfassungssatz über den aktiven Anteil der Gewerkschaften an der Gestaltung der Rechtsordnung zu streichen. Immerhin verlieh das darauf erlassene Gesetz über die Gewerkschaften in der Deutschen Demokratischen Republik v. 6.3.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 110) eine starke Stellung. Es räumte ihnen die Gesetzesinitiative ein, zu allen Fragen der Arbeits- und Lebensbedingungen sollten sie Vorschläge unterbreiten dürfen, die Erarbeitung von Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften in diesem Bereich sollte nur unter gewerkschaftlicher Mitwirkung erfolgen, ihnen wurde die Kontrolle des Arbeitsschutzes übertragen. Mit der Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde es wieder aufgehoben [Gesetz zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland v. 18. Mai 1990 (Verfassungsgesetz) v. 21.6.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 331)].
Noch vor den Neuwahlen der Volkskammer hatte sich der Zentrale Runde Tisch am 12.3.1990 mit dem Ergebnis der Tätigkeit der zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung eingesetzten Arbeitsgruppe beschäftigt. Dabei handelte es sich noch nicht um einen fertigen Entwurf für eine neue DDR-Verfassung. Der Zentrale Runde Tisch gab vielmehr der Arbeitsgruppe den Auftrag, im April 1990 einen solchen Entwurf fertigzustellen und ihn der Öffentlichkeit zur Diskussion zu unterbreiten.
Das Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. 3.1990 war für die Verfassungsfrage von entscheidender Bedeutung. Sie erbrachten das Bekenntnis des überwiegenden Teils der Wähler zu einer Wiedervereinigung Deutschlands und damit eine eindeutige Absage an eine neue Verfassung von “sozialistischem“ Charakter und an eine Eigenständigkeit der DDR auf eine noch längere Dauer.
Zur Verfassungsfrage gab es in der Bundesrepublik Stimmen, nach denen die DDR-Verfassung von 1968/74 "null und nichtig" geworden wäre. Dem neugewählten Parlament dürften nicht die "Fesseln der Unrechtsverfassung" angelegt werden (z. B. Der Tagesspiegel v. 13.3.1990). Dem wurde widersprochen, darunter vom Sprecher der Bundesregierung (Der Tagesspiegel v. 24.3.1990). Der Bonner Staatsrechtslehre (Josef Issensee, Direktor des Juristischen Seminars der Universität Bonn, Die junge Demokratie der DDR im Netz der alten SED-Verfassung?, DIE WELT v. 9.4.1990, S. 4) Josef Issensee wandte sich gegen den Rechtspositivismus in den Bundesministerien, wo man die Meinung vertrat, trotz ihres Mangels an Legitimität der DDR-Verfassung hätte sie bis zur formellen Aufhebung weiter gegolten. Dieser Meinung war aber auch die überwiegende Mehrheit in der neugewählten Volkskammer.
Sie konnte sich nicht zu einer radikalen Lösung durchringen. Dabei hätte sogar eine totale Aufhebung der "sozialistischen" Verfassung kein Vakuum geschaffen. Denn die Organisationsgesetze, wie das Ministerratsgesetz oder das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen, wären auch bei Aufhebung der Verfassung in Kraft geblieben.
Auch ersetzte die Volkskammer die alte Verfassung nicht zur Gänze durch eine neue, wenn auch nur als Übergangslösung.
Statt dessen nahm die Volkskammer weiter Einzelkorrekturen der Verfassung vor, die letztlich freilich deren Grundsätze betrafen.
Einen Tag vor der konstituierenden Sitzung der neugewählten Volkskammer überreichten am 4.4.1989 Mitglieder der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tischs den zuvor ausgearbeiteten Verfassungentwurf den Abgeordneten und machten ihn der Öffentlichkeit zugänglich. In einem Begleitschreiben baten sie, die Volkskammer möge dem Entwurf Einzelgesetzen den Vorzug gebend [Entwurf Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Runden Tisches, Berlin 1990 (Entw. Verf. DDR 1990, S. 1-78)].
Indessen führte diese schon in der konstituierenden Sitzung die Verfassungsentwicklung mit dem sechsten Einzelgesetz fort [Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 5.4.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 221)]. Die Präambel der Verfassung von 1968/1974 wurde aufgehoben. Damit gehörte u. a. die Erklärung, “unbeirrt auch weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus zu gehen“ der Vergangenheit an. Da die Präambel programmatische Aussagen des Marxismus-Leninismus enthielt und im übrigen in den Geist und die Grundlagen der Verfassung einfuhrte (s. Erl. zur Präambel, Rz. 2), wurde damit ein freilich nur undeutliches Zeichen der Abkehr von sozialistischen Vorstellungen gegeben. Indessen blieb die Qualifizierung der DDR als ein sozialistischer Staat, was das auch immer nach der Eliminierung der Suprematie der SED hätte bedeuten sollen.
Gleichzeitig wurde die Spitze des Staates neu geordnet. Der unter Walter Ulbricht allmächtige, unter Erich Honecker etwas weniger bedeutsame (s. Erl. zu Art. 66, Rz. 17-24), aber stets unter der Suprematie der SED stehende Staatsrat wurde praktisch abgeschafft. Seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen blieben zwar, zunächst sollte aber das Präsidium der Volkskammer die Befugnisse des Staatsrates und ihr Präsident die des Vorsitzenden des Staatsrates übernehmen. Gleichzeitig wurde das Präsidium der Volkskammer erweitert, indem es nunmehr anstelle eines Stellvertreters des Präsidenten dessen mehrere geben sollte. Die nach der Neuwahl der Volkskammer fällige Neuwahl des Staatsrates fand nicht statt, da aus der Verfassung die Regelung gestrichen wurde, derzufolge der Vorsitzende, seine Stellvertreter, die Mitglieder und der Sekretär des Staatsrates auf der ersten Tagung nach der Neuwahl der Volkskammer auf die Dauer von fünf Jahren zu wählen waren (s. Erl. zu Art. 67, Rz. 3-6). Indessen blieb innerhalb der Kompetenzregelung für die Volkskammer der Passus erhalten, nach dem sie den Vorsitzenden und die Mitglieder des Staatsrates zu wählen hatte (s. Erl. zu Art. 50, Rz. 3-5). Offenbar lag hier eine Nachlässigkeit vor. Die Übertragung der genannten Befugnisse sollte “bis zur Verabschiedung eines Gesetzes über die Stellung, die Aufgaben und Befugnisse des Präsidenten der Republik und seiner Wahl“ gelten.
Es war also an die Wiedereinführung eines Amtes gedacht, wie es die Verfassung von 1949 bis zu ihrer Änderung im Jahre 1960 kannte (s. Erl. zur Präambel, Rz. 38). Dieses verfügte nur über repräsentative Funktionen im Gegensatz zum Staatsrat und seinem Vorsitzenden [Gesetz über die Bildung des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik v. 12.9.1960 (GBl. DDR Ⅰ 1960, S. 505)]. Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß nach den Verfassungsentwürfen der SED aus den Jahren 1946 und 1949 (s. Erl. zur Präambel, Rz. 34) das Präsidium der Volkskammer die Befugnisse des Staatsoberhauptes wahmehmen sollte und daß die Schaffung des Amtes eines Präsidenten der Republik auf den Einfluß der “bürgerlichen“ Parteien zurückzuführen war (s. Erl. zu Art. 66, Rz. 2). Nach der von einem Parlament mit einer nichtsozialistischen Mehrheit beschlossenen, wenn auch nur als provisorisch gedachten Regelung nahmen der Präsident und das Präsidium der Volkskammer die Kompetenzen eines Organs wahr, das seinerzeit nach dem Vorbild der UdSSR vorgeschlagen war (s. Erl. zu Art. 66, Rz. 5). Offenbar hatte dabei der Entwurf des Zentralen Runden Tisches Pate gestanden. Zu einem "Präsidentengesetz" war es nicht mehr gekommen.
Schließlich verkürzte das sechste verfassungsändernde Gesetz die Amtsdauer des Vorsitzenden und der Mitglieder des Ministerrates auf die neue Legislaturperiode der Volkskammer von vier Jahren.
Wenn die Volkskammer in ihrer konstituierenden Sitzung keine grundlegenden Entscheidungen zur Verfassungsfrage getroffen hatte, so ist das damit zu erklären, daß ihre große Mehrheit für die Wiedervereinigung Deutschlands war, sobald wie möglich, aber auch so gut wie nötig.
Der kürzeste Weg dazu wäre gewesen, den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 GG sofort zu erklären mit der Folge, daß auch für die DDR das GG unverzüglich in Kraft getreten wäre. Diese Lösung mußte ausscheiden. Einmal waren die außenpolitischen Voraussetzungen dafür noch nicht geschaffen worden. Zum anderen hätte ein sofortiger Beitritt zur Folge gehabt, daß die notwendigen Überleitungs- und Übergangsbestimmungen durch ein Bundesgesetz hätten geschaffen werden müssen, wie es 1956 bei der Wiedereingliederung des Saargebiets geschehen, war [Gesetz über die Eingliederung des Saarlands v. 23.12.1956 (BGBl. BRD I 1956, S. 1011)].
Jedoch wäre dieses Verfahren bei der Wiedervereinigung Deutschlands durch Zusammenfugen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik nicht angemessen gewesen. In der DDR hatte sich in den vierzig Jahren ihres Bestehens trotz des von der Mehrheit dort abgelehnten politischen Systems ein Gefühl der Identität entwickelt. Bei einem sofortigen Beitritt der DDR hätte die Gefahr bestanden, es zu verletzen. Denn es wäre nur allzu leicht als ein “Anschluß“ der DDR an die Bundesrepublik Deutschland mißverstanden worden, wie ihn heute noch manche Nostalgiker im Osten, aber auch im Westen, empfinden. Es mußte also alles vermieden werden, was dazu hätte fuhren können, daß das Selbstwertgefühl der Deutschen in der DDR verletzt würde, das noch dadurch gestärkt war, daß von ihnen der Anstoß für die Gewinnung von Freiheit und Demokratie ausging. Die DDR wollte und sollte Partner des Wiedervereinigungsprozesses, nicht aber Objekt sein. So konnte und durfte also die Verfassungsfrage nicht gelöst werden.
Die entgegengesetzte Möglichkeit wäre die Schaffung einer neuen Verfassung, entweder mittels eines ohne größere Schwierigkeiten zu modifizierenden Textes der Verfassung von 1949 (Auf dieser Linie lagen die Vorschläge des Verfassers (Gedanken zu Verfassungsfragen, Staat und Recht, 6/1990, S. 435 ff.). Diesen Aufsatz hatte er kurz nach den Volkskammerwahlen am 18.3.1990 auf Bitte der Redaktion dieser Zeitschrift geschrieben, die einmal die der Akademie für Staat und Recht der DDR in Potsdam-Babelsberg gewesen war und 1990 zunächst als Theoretische Zeitschrift für Rechtswissenschaft Weiterbestand. Er wurde indessen erst im Juni 1990, also nach den Koalitionsvereinbarungen, publiziert. Schon im Dezember 1989 hatte er Gerhard Weigt von der Bürgerbewegung "Demokratie jetzt" in Verfassung beraten. Dabei wurde der Gedanke die Verfassung von 1949 mit Modifikationen, insbesondere durch die Errichtung eines Verfassungsgerichts, erörtert. Auch bei anderen Gelegenheiten, z. B. auf Tagungen der deutschen Richter-Akademie in Trier und der Gesellschaft für Deutschlandforschung sowie in Interviews in Rundfunk und Presse, wurden diese Gedanken vorgetragen. Auch andere westliche Autoren lagen auf dieser Linie, z. B. Erich Röper, DDR-Verfassung von 1949 wieder in Kraft setzen, ROW 2/1990, S. 91) oder auf der Grundlage des Entwurfs des Zentralen Runden Tisches, gewesen. Gegen letzteren sprach außer anderem Bedenklichen, daß er auf eine Verfassung eines Staates hinauslief, der noch auf längere Zeit bestehen würde. Er enthielt zwar ein Bekenntnis zum Ziel der Herstellung der Einheit der beiden deutschen Staaten. Aber es wurde nicht als vorrangig angesehen. Vielmehr sollte die DDR zu einer zweiten Bundesrepublik werden, und zwar zu einer besseren als die erste. Das entsprach zwar den Vorstellungen der Arbeitsgruppe “Neue Verfassung der DDR“, deren Mitglieder überwiegend aus den neuen Bürgerbewegungen kamen und die sich zudem von Staatsrechtswissenschaftlern mit SED-Vergangenheit oder solchen aus dem linken Spektrum der Bundesrepublik beraten ließen. Das war aber nicht die Meinung der Mehrheit in der Volkskammer, die auch Ausdruck der Volksmeinung war, wie sie auf den letzten großen Demonstrationen sicht- und hörbar geworden war ("Wir sind ein Volk" statt vorher "Wir sind das Volk").
Die neue Koalition in der Volkskammer, bestehend aus CDU, SPD, Liberalen und einigen kleineren Gruppierungen, die aus Bürgerrechtsbewegungen hervorgegangen waren, legte in ihrer Vereinbarung vom 12.4.1990 (Beilage zu "Informationen", herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Nr. 8 v. 27.4.1990) über die Grundzüge der Regierungspolitik zum Problem fest:
"Ziel der Koalitionspartner ist es, den Prozeß der Gestaltung der Einheit Deutschlands schnell und verantwortlich zu organisieren. Dieser Prozeß setzt rechtsstaatliche Strukturen voraus, die z. Z. nicht gegeben bzw. nicht wirksam sind.
Um den inneren Frieden in unserer Gesellschaft zu sichern, bedarf es einer verfassungsrechtlichen Grundlage. Die Koalition tritt bei der weiteren Gestaltung der Verfassung für Übergangsregelungen ein, die sowohl die Verfassung von 1949 als auch den Verfassungsentwurf des Runden Tisches berücksichtigen."
Die Frage, ob eine neue Gesamtkonzeption angestrebt werden sollte oder ob es bei der Regelung durch die Verfassung von 1968/1974 ändernde Einzelgesetze geben sollte, war damit nicht entschieden. Die Regierungserklärung des neuen Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere vom 19.4.1990 ("Informationen", herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Nr. 8 v. 27.4.1990, S. 25) ging auf die Verfassungsffage nicht ein.
Tatsächlich zeigte sich die Koalition uneins. In der Aussprache über die Regierungserklärung sprachen sich vor allem die Abgeordneten der CDU gegen eine neue Verfassung aus. Sie meinten, die Bürger der DDR hätten einen schnellen Weg zur deutschen Einheit gewählt. Demgegenüber würde eine neue Verfassung ein Umweg sein. Der Minister der Justiz, Klaus Wünsche, sprach sich dagegen auf einem deutsch-deutschen Juristentag in Strausberg bei Berlin am 20. 4. 1990 für eine neue Verfassung aus. Diese wäre schon deshalb erforderlich, “weil sonst ein zu schaffendes Verfassungsgericht gar keine Grundlage hätte, auf der es arbeiten kann“. Denkbar sei, auf die Verfassung von 1949 zurückzugreifen und durch den Entwurf des Runden Tischs zu modifizieren (Der Tagesspiegel v. 21.4.1990).
Das Schicksal des Runden-Tisch-Entwurfs wurde in der Volkskammersitzung vom 26.4.1990 besiegelt. Im Rahmen der Aussprache über die Regierungserklärung brachte die nicht zur Koalition gehörende Fraktion Bündnis 90/Grüne den Antrag ein, diesen einer neuen Verfassung der DDR zugrunde zu legen und über ihn einen Volksentscheid einzuleiten. Der Antrag wurde mit 179 zu 167 Stimmen abgelehnt, ohne ihn an die zuständigen Ausschüsse zu überweisen ("Informationen", herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Nr. 9 v. 18.5.1990). Vorher hatte freilich in einer nur marginalen Frage eine Passage aus dem Entwurf des Runden Tischs Berücksichtigung gefunden. Die neue Regierung wollte sich nicht auf die Verfassung vereidigen lassen. Das aber sah Art. 79 der Verfassung von 1968/1974 vor (s. Erl. zu Art. 79, Rz. 34). So wurde ein siebtes Änderungsgesetz beschlossen [Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik v. 12.4.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 229)], das folgende Eidesformel vorschrieb:
"Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des Volkes widmen, Recht und Gesetz der Deutschen Demokratischen Republik wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe."
Der Eid durfte auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. So wurde lediglich das Wort “Verfassung“ durch “Recht" ersetzt und als Neuerung die fakultative religiöse Beteuerung eingeführt. Der Sinn der Auswechslung der beiden Worte ist nicht recht einsehbar. Denn das Recht schließt die Verfassung als ein Gesetz von erhöhter Dignität ein. Aber das kann nunmehr auf sich beruhen.
Die Volkskammer fuhr fort, im Wege der Einzelgesetzgebung die Verfassung zu ändern bzw. zu ergänzen. Das achte Gesetz betraf die Einführung der Selbstverwaltung der Städte, Gemeinden und Landkreise. Im betreffenden Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassung) v. 17.5.1990 (GBl. DDR Ⅰ 1990, S. 255) waren in den Übergangsund Schlußbestimmungen, also an wenig hervorgehobener Stelle, die Sätze zu finden, denen zufolge es als ein verfassungsänderndes Gesetz gemäß Art. 63 und 106 der DDR-Verfassung galt und deren Art. 41, 43 sowie 81 und 85, die örtlichen Volksvertretungen und ihr Organe betreffend, aufgehoben wurden. Diese Regelung war bedenklich. Sicher standen die letztgenannten Verfassungsbestimmungen der kommunalen Selbstverwaltung entgegen. Das gilt aber auch für Art. 47 Abs. 2, demzufolge der “demokratische Zentralismus“ als Strukturprinzip der sozialistischen DDR festgelegt wurde (s. Erl. zu Art. 2, Rz. 7-14). Dieser steht aber in schärfstem Gegensatz zur kommunalen Selbstverwaltung. Er hätte also ebenfalls in diesem Zusammenhang aufgehoben werden müssen. Das geschah indessen mittelbar erst einen Monat später. Ein zweites Bedenken stützt sich auf Art. 106. Wie Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG schrieb er vor, daß die Verfassung nur durch ein Gesetz geändert werden durfte, das den Wortlaut der Verfassung ausdrücklich ändert oder ergänzt. Hier wurden aber Artikel aus der Verfassung gestrichen, ohne daß die entstandenen Lücken ausgefüllt wurden. Eine gewisse Sorglosigkeit ist unverkennbar, die mit dem Zeitdruck erklärbar war, unter dem den neugewählten kommunalen Vertretungen eine rechtliche Grundlage für die Selbstverwaltung gegeben werden mußte.