(1) Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, der am Wahltage das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist wahlberechtigt.
(2) Jeder Bürger kann in die Volkskammer und in die örtlichen Volksvertretungen gewählt werden, wenn er am Wahltage das 18. Lebensjahr vollendet hat.
(3) Die Leitung der Wahlen durch demokratisch gebildete Wahlkommissionen, die Volksaussprache über die Grundfragen der Politik und die Aufstellung und Prüfung der Kandidaten durch die Wähler sind unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien.


Ursprüngliche Fassung des Artikel 21, Absatz 2 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik

(2) Jeder Bürger kann in die örtlichen Volksvertretungen gewählt werden, wenn er am Wahltage das 18. Lebensjahr vollendet hat. Er kann in die Volkskammer gewählt werden, wenn er am Wahltage das 21. Lebensjahr vollendet hat.

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I. Die Entwicklung des objektiven Wahlrechts

1. Verfassung von 1949

1 a) In der Verfassung von 1949 wurden das aktive und das passive Wahlrecht im Zusammenhang mit der Stellung der Volkskammer und der anderen Volksvertretungen geregelt. Nach Art. 52 Abs. 1 waren zur Volkskammer alle Bürger wahlberechtigt, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, und nach Art. 52 Abs. 2 war zur Volkskammer wählbar jeder Bürger, der das 21. Lebensjahr vollendet hatte. Näheres sollte das Wahlgesetz bestimmen (Art. 52 Abs. 4). Die Landtage sollten von allen wahlberechtigten Bürgern gewählt werden (Art. 109 Abs. 2). Das Wahlrecht zu den Volksvertretungen der Gemeinden und Gemeindeverbände sollte sich nach den für die Wahl zur Volkskammer und zu den Landtagen geltenden Bestimmungen richten (Art. 140 Abs. 3).

2 b) Im Abschnitt über die Rechte des Bürgers war hingegen festgelegt, wer berechtigt sein sollte, Wahlvorschläge einzureichen. Generell bestimmte Art. 13 Abs. 1, daß dazu das Recht hatten »Vereinigungen, die die demokratische Gestaltung des öffentlichen Lebens auf der Grundlage dieser Verfassung satzungsgemäß erstreben und deren Organe durch deren Mitglieder bestimmt werden«. Speziell legte Art. 13 Abs. 2 fest, daß Wahlvorschläge für die Volkskammer nur die Vereinigungen aufstellen durften, »die nach ihrer Satzung die demokratische Gestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens der gesamten Republik erstreben und deren Organisation das ganze Staatsgebiet umfaßt«. Art. 53 wiederholte Art. 13 Abs. 2.

3 c) Die Wahlrechtsgrundsätze waren dagegen wieder im Zusammenhang mit der Stellung der Volksvertretungen festgelegt. Nach Art. 21 Abs. 2 sollten die Abgeordneten der Volkskammer in allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen nach den Grundsätzen des Verhältnis Wahlrechts gewählt werden. Die Landtage waren nach Art. 109 Abs. 3 ebenfalls in allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen nach den im Wahlgesetz für die Republik niedergelegten Grundsätzen des Verhältniswahlrechts zu wählen. Für die Wahl der Volksvertretungen der Gemeinden und Gemeindeverbände sollte nach Art. 140 Abs. 3 auch das Wahlverfahren sich nach den für die Wahl zur Volkskammer und zu den Landtagen geltenden Bestimmungen richten. Jedoch konnte nach Art. 140 Abs. 4 durch Landesgesetz die Wahlberechtigung von der Dauer des Aufenthalts in der Gemeinde bis zu einem halben Jahre abhängig gemacht werden.

6 c) Das Wahlgesetz vom 31.7.1963 wurde geändert durch
(1) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - v. 13.9.1965 (GBl. DDR Ⅰ 1965, S. 207),
(2) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - v. 2.5.1967 (GBl. DDR Ⅰ 1967, S. 57),
(3) Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik (Wahlgesetz) vom 17. Dezember 1969 v. 17.12.1969 (GBl. DDR Ⅰ 1970, S. 1).
Die Wahlordnung vom 31.7.1963 wurde durch Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Neufassung des Erlasses über die Wahlen zur Volkskammer und zu den örtlichen Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik (Wahlordnung) v. 2.7.1965 (GBl. DDR Ⅰ 1965, S. 144) neu gefaßt und durch Erlaß zur Änderung des Erlasses des Staatsrates der DDR über die Wahlen zur Volkskammer und zu den örtlichen Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik (Wahlordnung) v. 25.2.1974 (GBl. DDR Ⅰ 1974, S. 92; Wortlaut der Neufassung: GBl. DDR I 1974, S. 93) erneut geändert.
Mit dem Gesetz über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - v. 24.6.1976 (GBl. DDR Ⅰ 1976, S. 301) [in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten (3. Strafrechtsänderungsgesetz) v. 28.6.1979 (GBl. DDR Ⅰ 1979, S. 139)] wurde »die bisherige Trennung wahlgesetzlicher Bestimmungen in einem Wahlgesetz und einer Wahlordnung« beseitigt. »Das Wahlgesetz enthält die Wahlgrundsätze und regelt bis zur Wahlhandlung am Wahltag das gesamte Verfahren der Bildung der Volksvertretungen« (Rudi Rost, Die Wahlen zur Volkskammer und zu den Bezirkstagen - Ausdruck der Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie, S. 936). Das Wahlgesetz 1976 soll die wahlrechtlichen Bestimmungen »vervollkommnet« haben (Gerhard Schüßler, Wahlen in der DDR - Ausdruck wahrhafter Demokratie, S. 579).
Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Durch das Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - v. 3.3.1089 (GBl. DDR Ⅰ 1989, S. 109) wurde ab 6.3.1989 auch Ausländem das aktive und passive Wahlrecht für die Volksvertretungen ab Kreistag abwärts gegeben (Einzelheiten in ROW 4/1989, S. 225).


3. Entwicklung des sozialistischen Wahlsystems

7 a) Nach Herbert Graf und Günther Seiler (Ein wahrhaft demokratisches Wahlsystem, S. 2) erfolgte die Entwicklung des sozialistischen Wahlsystems in der DDR stets im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung. »Dabei wirkte die Entwicklung der gesellschaftlichen Funktion der Wahlen, des Wahlsystems und des Wahlrechts als ein gesellschaftsgestaltendes dynamisches Element, das durch seinen Einfluß auf die Entwicklung des Bewußtseins der Werktätigen sowie auf die Bildung, Tätigkeit und Wirksamkeit der Volksvertretungen die Entwicklungspotenzen der sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen Staates stärkte.« Es kam also von Anfang an darauf an, die Volksvertretungen so zu bilden, daß über sie die führende Kraft der Gesellschaft, die marxistisch-leninistische SED, sich durchsetzen konnte. Dementsprechend war das objektive Wahlrecht gestaltet.

8 b) Das objektive Wahlrecht wurde seit 1950 so gefaßt, daß den Wählern nur ein einziger Wahlvorschlag vorgelegt werden konnte. Mit Rücksicht auf Art. 13 der Verfassung von 1949 wurde freilich vermieden, den einheitlichen Wahlvorschlag ausdrücklich anzuordnen. § 27 Wahlgesetz 1950 enthielt aber bereits die Bestimmung, daß die zur Einreichung von Wahlvorschlägen berechtigten Vereinigungen das Recht hätten, gemeinsame Vorschläge einzubringen. In jedem der späteren Wahlgesetze ist die gleiche Bestimmung zu finden (§ 18 Wahlgesetz 1954, § 31 Abs. 2 Satz 1 Wahlgesetz 1957, § 29 Abs. 2 Satz 2 Wahlgesetz 1958, § 16 Wahlgesetz 1963, § 16 Wahlgesetz 1976). Dieses Recht wurde in eine Pflicht umgedeutet (s. Rz. 50 zur Präambel).

9 c) Erstmals in den §§ 1 und 34 Abs. 3 Wahlgesetz 1957 wurde die Nationale Front des demokratischen Deutschland (s. Rz. 1-16 zu Art. 3) expressis verbis als die Organisation genannt, in der die demokratischen Parteien und Massenorganisationen und alle demokratischen Kräfte Zusammenarbeiten und auf die sich die Volksvertretungen stützen, und ihr das Recht zuerkannt, gegen den Beschluß des Wahlausschusses eines Wahlkreises, einen Wahlvorschlag nicht zuzulassen, Beschwerde einzulegen. Als die durch die Zurückweisung Beschwerte wurde also allein die Nationale Front angesehen, was voraussetzt, wie es schon in den vorangegangenen Wahlen geschehen war, daß sie den Wahlvorschlag eingereicht hat. In § 29 Wahlgesetz 1958 wurde der gemeinsame Wahlvorschlag der nach Art. 13 berechtigten Vereinigungen als Vorschlag der Nationalen Front bezeichnet. Gleichzeitig wurde dem Nationalrat der Nationalen Front das Recht gegeben, einen anderen Kandidaten zu benennen, falls ein Kandidat vor der Wahl ausscheiden sollte (§ 33 Abs. 1 Wahlgesetz 1958). Ferner wurde ihm das Einspruchsrecht zuerkannt, falls ein Wahlkreisausschuß den Wahlvorschlag nicht zuläßt. (Wegen des Einspruchsrechts im geltenden Wahlrecht s. Rz. 41 zu Art. 22).

10 d) Ebenfalls erstmals wurde in § 24 Wahlgesetz 1954 die Kandidatenvorstellung vorgeschrieben. Entsprechende Bestimmungen enthielten die späteren Wahlbestimmungen (§ 37 Wahlgesetz 1957, § 35 Wahlgesetz 1958, § 27 Abs. 1 Wahlordnung 1963, wegen des geltenden Wahlrechts s. Rz. 29 zu Art. 22). Während im Wahlgesetz 1954 noch der Form nach auch einer einzelnen Vereinigung, die einen Wahlvorschlag eingebracht hatte, das Recht zugestanden worden war, einen anderen Kandidaten für den abgelehnten zu benennen, und nur beim gemeinsamen Wahlvorschlag die gemeinsame Benennung eines Ersatzkandidaten vorgeschrieben war, erhielt in den späteren Bestimmungen ausdrücklich die Nationale Front dieses Recht (s. §§ 37 Abs. 2, 35 Wahlgesetz 1957, §§ 35 Abs. 2, 33 Wahlgesetz 1958, § 29 Wahlordnung 1963, wegen des geltenden Wahlrechts s. Rz. 30 zu Art. 22).

11 e) Mit der Einreichung nur eines einzigen Wahlvorschlages wurden die Verfassungssätze über die Durchführung der Wahlen nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts (Art. 51 Abs. 2, 109 Abs. 3, 140 Abs. 3) unterlaufen. Denn wenn etwas in ein Verhältnis gesetzt werden soll, muß etwas gleichartig anderes vorhanden sein. Das Verhältniswahlrecht setzt voraus, daß mindestens zwei Vorschläge, die jeweils eine Liste von Kandidaten enthalten, den Wählern zur Auswahl vorgelegt werden.
Obwohl das Verhältniswahlrecht durch die Praxis ausgeschaltet wurde, enthielten auch die Wahlgesetze 1950, 1954,1958 in ihrem jeweiligen § 1 die Klausel über das Verhältniswahlrecht. Nur in § 1 Wahlgesetz 1957 fehlte sie. Das Wahlgesetz 1963 verzichtete endgültig darauf, in die Aufzählung der Wahlgrundsätze das Verhältniswahlrecht aufzunehmen.

12 f) Obwohl nach Art. 54 Satz 2 der Verfassung von 1949 die Wahlfreiheit und das Wahlgeheimnis gewährleistet werden sollten, sah die Wirklichkeit anders aus. Darüber legen zahlreiche empirische Befunde Zeugnis ab (Dokumente und Materialien in »Die Wahlen in der Sowjetzone« sowie in der Sammlung »Unrecht als System«).

13 g) So verwundert es nicht, daß es gelang, seit 1950 die Volksvertretungen in der DDR so zusammenzusetzen, daß sie ausschließlich aus Mitgliedern der SED und aus Parteigängern der SED in den anderen Parteien und den Massenorganisationen bestanden.

14 h) Offensichtlich machte es der Rechtswissenschaft der DDR Schwierigkeiten, zwischen dem objektiven Wahlrecht und der Wirklichkeit Harmonie festzustellen. Jedenfalls sah sich Walter Ulbricht in einer Rede vor der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft im Jahre 1958 (Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen Staates, S. 641) veranlaßt zu kritisieren, daß es in der DDR noch nicht gelungen sei, die Wahlbestimmungen juristisch richtig zu erläutern. Es genüge nicht, sie formal zu erklären. Es sei vielmehr notwendig, die Wahlen »im Rahmen der Entwicklung der Volksdemokratie und des sozialistischen Ausbaus« einzuschätzen. Sie seien Akte der »Weiterentwicklung der sozialistischen Staatsorgane durch die Volksmassen«. Sie dienten der »Vervollkommnung der Leitung des Staates im Interesse des weiteren sozialistischen Aufbaus«. In ihrem Zusammenhang werde die Bevölkerung mit den Problemen des sozialistischen Aufbaus verbunden, und breite Teile der Bevölkerung würden zur staatlichen Arbeit herangezogen.

II. Das geltende objektive Wahlrecht

1. Der Inhalt des Rechts

15 a) Das aktive und das passive Wahlrecht werden als Ausdruck des Rechts auf Mitbestimmung und Mitgestaltung im Sinne des Art. 21 (s. Rz. 1-5 zu Art. 21) verstanden. Die Wahlen sind ein Mittel zur Verwirklichung dieses Rechts (Art. 21 Abs. 2). Die beschränkte Substanz und die spezifische Zielstellung der Grundrechte (s. Rz. 14 zu Art. 19) wirken sich sogar insbesondere auf das Wahlrecht aus. Entsprechend ist das sozialistische Wahlsystem gestaltet, das Walter Ulbricht auf der 26. Sitzung der Volkskammer (4. Wahlperiode) am 2. 5. 1967 als das fortschrittlichste bezeichnete, das es jemals in Deutschland gegeben hätte.

16 b) Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Ausführungen Walter Ulbrichts aus dem Jahre 1958 erläuterten Herbert Graf und Günther Seiler (Ein wahrhaft demokratisches Wahlsystem, Wesensmerkmale der Wahlen und des Wahlrechts in der DDR, S. 3) im Jahre 1970 die gesellschaftliche Funktion der Wahlen. Diese werde vor allem dadurch bestimmt, »daß
- Wahlen im Prozeß der von der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei geführten gesellschaftlichen Entwicklung einen festen Platz einnehmen, der durch das politische, gesellschaftsgestaltende Wesen der sozialistischen Volksvertretungen begründet ist;
- Wahlen zur Bildung sozialistischer Staatsmachtorgane fuhren, die als Machtinstrument der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten werktätigen Klasse der Genossenschaftsbauern und der anderen werktätigen Schichten den Gesetzmäßigkeiten der objektiven Entwicklung zum Durchbruch verhelfen;
- der Prozeß der Vorbereitung und Durchführung von Wahlen dadurch gekennzeichnet ist, daß die Werktätigen in einem hohen Grade gesellschaftliche Verantwortung ausüben und ihre Aktivität und Initiative erhöhen;
- die im Wahlprozeß entwickelte Initiative der Werktätigen zugleich eine Entwicklungspotenz der Mitwirkung der Werktätigen bei der Leitung von Staat und Wirtschaft ist und so auch zu neuen Impulsen für die Mitwirkung der Massen bei der Lösung der Aufgaben der Volksvertretung führt;
- im sozialistischen Wahlprozeß durch seine gesellschaftsgestaltenden Elemente wesentlicher Einfluß auf die Persönlichkeitsbildung der Wähler (die zu den Grundfragen der Politik Stellung nehmen, die Rechenschaftsberichte ihrer Abgeordneten beraten, an der Auswahl der Kandidaten teilnehmen und aktiv am Wettbewerb teilnehmen) wie auch der Abgeordneten und Kandidaten (die sich in Rechenschaftslegungen und Wahlversammlungen durch politisch-ideologische Klarheit, Sachkunde und Aufgeschlossenheit dem Neuen gegenüber auszeichnen müssen) genommen wird.
Die Wahl, der Prozeß der demokratischen Bildung der Volksvertretungen, ist also nicht eine arithmetische, im Wahlergebnis zusammengefaßte Summe abgegebener Stimmen, sondern ein gesellschaftlicher Prozeß. Im Wahlergebnis vereinigen sich zugleich die Initiative, die Bewußtheit, die Bereitschaft und Tätigkeit der Bürger zur Mitarbeit bei der Gestaltung des entwickelten sozialistischen Gesellschaftssystems, die in der Wahlbewegung neue Impulse erhalten.«

17 c) Aus der gesellschaftlichen Funktion der Wahlen und dem Wesen der sozialistischen Volksvertretungen ergeben sich nach Herbert Graf und Günther Seiler (a.a.O., S. 2) die Wesensmerkmale des sozialistischen Wahlsystems und des sozialistischen Wahlrechts. Diese müssen so gestaltet sein, daß die Suprematie der SED gesichert ist, daß die Volksvertretungen von ihr okkupiert werden können, ohne daß es auf eine empirische Feststellung des Wählerwillens durch Zählung von Stimmen ankommt.
Zum Wahlgesetz 1976 bemerkt Rudi Rost (Die Wahlen zur Volkskammer und zu den Bezirkstagen ..., S. 929): »In der sozialistischen Gesellschaftsordnung entsprechen die demokratischen Wahlen - wie das nicht anders sein kann - dem Charakter der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse und ihres Bündnisses mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und den anderen Werktätigen«. Nicht anders äußert sich Gerhard Schüßler (Wahlen in der DDR - Ausdruck wahrhafter Demokratie, S. 578): »Wahlen im Sozialismus sind eine Form und ein Ausdruck der Machtausübung durch die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten.« Wahlen in einem sozialistischen Staat, also auch in der DDR, haben also nicht die Funktion, durch Mehrheitsentscheid die Inhaber der politischen Gewalt zu bestimmen, sondern sollen lediglich die Herrschenden in einer existenten Herrschaft bestätigen. Sie unterscheiden sich zutiefst von Wahlen, wie sie für freiheitlich-demokratische Ordnungen üblich sind.


2. Interpretation durch einfache Gesetzgebung

18 Die Verfassung von 1968/1974 regelt nur das Grundsätzliche über die Wahlen. Die Einzelheiten sind der einfachen Gesetzgebung überlassen, obwohl die Verfassung auf diese nicht verweist. Maßgebend ist das Wahlgesetz von 1976. Zur Interpretation der Verfassungssätze über das subjektive und das objektive Wahlrecht ist dieses heranzuziehen.
Zur gesellschaftlichen Funktion derWahlen heißt es in der Präambel des Wahlgesetzes von 1976: »Die Wahlen zu den Volksvertretungen sind Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben der Deutschen Demokratischen Republik. Ihre Vorbereitung und Durchführung dient der Stärkung der sozialistischen Staatsmacht und der weiteren Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie.«


3. Das aktive und das passive Wahlrecht

19 a) Die Bestimmungen über das aktive und das passive Wahlrecht in der Verfassung von 1968 schlossen an die Regelungen der Verfassung von 1949 und der Wahlgesetze an. Jedoch wurde das passive Wahlrecht für die Wahlen zu den örtlichen Volksvertretungen durch Art. 22 Abs. 2 Satz 1 statt an die Vollendung des 21. an die Vollendung des 18. Lebensjahres geknüpft. Durch die Novelle zum Wahlgesetz 1963 vom 17.12.1969 [Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik (Wahlgesetz) vom 17. Dezember 1969 v. 17.12.1969 (GBl. DDR Ⅰ 1970, S. 1)] wurde dieses der Verfassung von 1968 angepaßt.
Mit der Verfassungsnovelle von 1974 wurde auch das passive Wahlrecht für die Volkskammer auf die Vollendung des 18. Lebensjahres herabgesetzt. Dem entspricht § 4 des Wahlgesetzes 1976.

20 b) Aktiv und passiv wahlberechtigt sind die Bürger der DDR. Unter Bürger im Sinne des Art. 22 sind die Staatsbürger der DDR zu verstehen. Wer Staatsbürger ist, bestimmt das Staatsbürgerschaftsgesetz vom 20.2.1967 [Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsbürgerschaftsgesetz) v. 20.2.1967 (GBl. DDR Ⅰ 1967, S. 3)] (s. Rz. 76ff. zu Art. 19). Das Wahlgesetz 1963 sprach in der ursprünglichen Fassung des § 3 im Zusammenhang mit dem passiven Wahlrecht von »allen wahlberechtigten Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Hauptstadt Berlin«. In der Fassung des § 3 von 1969 entfiel die Anführung der »Hauptstadt Berlin«. Die Bürger des Ostsektors der Stadt werden seit dem Erlaß des Staatsbürgerschaftsgesetzes als Bürger der DDR betrachtet (s. Rz. 80 zu Art. 19).
Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Durch das Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik - Wahlgesetz - v. 3.3.1089 (GBl. DDR Ⅰ 1989, S. 109) wurde ab 6.3.1989 auch Ausländem das aktive und passive Wahlrecht für die Volksvertretungen ab Kreistag abwärts gegeben (Einzelheiten in ROW 4/1989, S. 225).

21 c) Das aktive Wahlrecht für die Wahl zu den Bezirks- und Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen ist daran geknüpft, daß der Bürger seinen Wohnsitz in dem betreffenden Bezirk, dem Kreis, der Stadt, dem Stadtbezirk oder der Gemeinde hat (§ 3 Abs. 2 Wahlgesetz 1976). Eine Dauer des Wohnsitzes ist nicht vorgeschrieben.

22 d) § 1 Abs. 2 Wahlgesetz 1976 verlangt, daß die Arbeiter, Genossenschaftsbauern, Angehörigen der Intelligenz und anderen Werktätigen durch die Wahlen ihre besten Vertreter als Abgeordnete in die Volksvertretungen entsenden. In § 1 Abs. 2 Wahlgesetz 1963 hatte es geheißen, die Bevölkerung entsende »ihre besten Vertreter, die sich durch hervorragende Taten, ihre Initiative und ihre Verbundenheit mit dem werktätigen Volke auszeichen«, als Abgeordnete in die Volksvertretungen. Wenn das Wahlgesetz 1976 also darauf verzichtet zu erläutern, wodurch sich die Abgeordneten als »beste« Vertreter auszeichnen, so bedeutet das nicht, daß nicht dieselben Anforderungen an die Abgeordneten gestellt würden. Auch § 1 Abs. 2 Wahlgesetz 1976 stellt also das Kriterium der Wahlwürdigkeit auf, das die Aufstellung oppositioneller Kandidaten von Gesetzes wegen unmöglich machen soll.

23 e) Die Festsetzung des Mindestalters für das aktive Wahlrecht auf 18 Jahre war schon früh ein Zeichen dafür, daß auch jungen Menschen politische Reife zuerkannt wurde. Das passive Wahlrecht war zunächst gespalten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung von 1949 war jeder Bürger wählbar, der das 21. Lebensjahr vollendet hatte. Die Verfassung von 1968 und ihr folgend die Novelle von 1969 zum Wahlgesetz 1963 setzte für die Wahl zu den örtlichen Volksvertretungen das passive Wahlalter auf die Vollendung des 18. Lebensjahres herab. Durch die Verfassungsnovelle von 1974 wurde dann Art. 22 Abs. 2 so geändert, daß generell die Wählbarkeit mit der Vollendung des 18. Lebensjahres beginnt. Dem folgt § 4 Wahlgesetz 1976. Nach anfänglichem etwas unverständlichem Zögern, weil das Wahlalter in Anbetracht der Modalitäten, unter denen nach den sozialistischen Wahlprinzipien (s. Rz. 26—30 zu Art. 22) die Volkskammer zusammengesetzt wird, von untergeordneter Bedeutung erscheinen muß, und in Anbetracht der Tätigkeit dieser Volksvertretung in der Praxis (s. Rz. 4 ff. zu Art. 48) wird nunmehr auch den 18-bis 20jährigen die »Reife« zuerkannt, die für die Ausübung eines Mandats in ihr für unerläßlich gehalten wird.

24 f) Nicht wahlberechtigt und nicht wählbar sind Personen, die a) entmündigt sind oder b) denen rechtskräftig durch gerichtliche Entscheidung die staatsbürgerlichen Rechte aberkannt sind (§ 5 Abs. 1 Wahlgesetz 1976).
Das Wahlrecht ruht bei Personen, die a) wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit in einer Einrichtung für psychisch Kranke untergebracht sind, b) unter vorläufiger Vormundschaft oder c) wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft stehen, sowie bei Personen, die d) eine Strafe mit Freiheitsentzug verbüßen, e) sich in Untersuchungshaft befinden oder f) vorläufig festgenommen wurden (§ 5 Abs. 2 Wahlgesetz 1976).

25 g) Die Angehörigen der bewaffneten Organe der DDR haben volles aktives und passives Wahlrecht (§ 2 Abs. 3 Wahlgesetz 1976).


4. Sozialistische Wahlprinzipien

26 Die in Art. 22 Abs. 3 genannten sozialistischen Wahlprinzipien waren schon im Wahlgesetz 1963 enthalten. Ob sie abschließend aufgezählt sind, ist nicht klar erkennbar. Da die Wendung »unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien« ohne Artikel steht, könnte angenommen werden, es gäbe auch noch weitere, die in Art. 22 Abs. 3 nicht genannt sind. Jedoch ist der Schluß nicht zwingend. Auf jeden Fall ist Raum gegeben für eine künftige Entwicklung, in deren Verlauf noch weitere unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien entdeckt werden könnten. Die Verfassung nennt in Art. 22 Abs. 3 drei »unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien«: die Leitung der Wahlen durch demokratisch gebildete Wahlkommissionen, die Volksaussprache über die Grundfragen der Politik und die Aufstellung und Prüfung der Kandidaten durch die Wähler. § 1 Abs. 1 Satz 2 Wahlgesetz 1976 wiederholt sie.

27 a) Mit dem Wahlgesetz 1963 war die Leitung der Wahlen vom Minister des Innern auf den Staatsrat übertragen worden (§ 1 Abs. 3 a.a.O.). Die Vorbereitung und Durchführung wurde zur Sache von Wahlkommissionen und Wahlkreiskommissionen. Das Wahlgesetz 1976 kennt nur noch Wahlkommissionen: »Die Leitung der Wahlen erfolgt durch demokratisch gebildete Wahlkommissionen« (§ 10 Abs. 1 Wahlgesetz 1976). Für die Wahlen zur Volkskammer und zu den Bezirkstagen werden die Wahlkommission der Republik, eine Wahlkommission in jedem Bezirk und in jedem Kreis gebildet [Beschluß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Bildung der Wahlkommission der Republik v. 16.3.1981 (GBl. DDR Ⅰ 1981, S. 97)]. Für die Wahlen zu den Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen, Stadtbezirksversammlungen und Gemeindevertretungen werden die Wahlkommissionen darüber hinaus in jeder Stadt, in jedem Stadtbezirk und in jeder Gemeinde gebildet (§ 11 Wahlgesetz 1976). Sie haben insbesondere folgende Aufgaben:
a) Sie leiten die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen in ihrem Verantwortungsbereich, gewährleisten die strikte Einhaltung der wahlrechtlichen Bestimmungen und tragen dazu bei, den Bürgern die wahlrechtlichen Bestimmungen zu erläutern;
b) sie leiten die nachgeordneten Wahlkommissionen an, kontrollieren deren Tätigkeit und sind berechtigt, von ihnen Berichte über die Durchführung der Aufgaben entgegenzunehmen;
c) sie fordern zur Einreichung von Wahlvorschlägen auf und bestätigen die von den Ausschüssen der Nationalen Front der DDR für die einzelnen Wahlkreise beschlossenen Wahlvorschläge;
d) sie kontrollieren die Aufstellung der Wählerlisten sowie die Einrichtung der Wahllokale und Sonderwahllokale;
e) sie entscheiden über Beschwerden gegen die Tätigkeit nachgeordneter Wahlkommissionen, von Wahlvorständen bzw. staatlichen Organen im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen;
f) sie veranlassen die Herstellung der Stimmzettel und anderer Wahlvordrucke;
g) sie stellen das Ergebnis und die Gültigkeit der Wahl fest, veranlassen die öffentliche Bekanntgabe des Wahlergebnisses und benachrichtigen die gewählten Abgeordneten und Nachfolgekandidaten von ihrer Wahl (§ 10 Abs. 2 Wahlgesetz 1976).
Die Wahlkommissionen leiten also die Wahlen keineswegs nur im technischen Sinne, sondern haben dafür zu sorgen, daß das Ziel der Wahlen, nämlich die Bildung »sozialistischer Volksvertretungen«, in kritischer Sicht also von Volksvertretungen, die von der SED okkupiert sind, erreicht wird. Dieses System wird als Leitung der Durchführung der Wahlen durch das Volk bezeichnet (Max Schmidt und Gerhard Zielke, Der weitere Ausbau des Wahlsystems . . ., S. 1424), wobei das Volk im marxistisch-leninistischen Verständnis gemeint ist, also das werktätige Volk unter der Suprematie der SED (s. Rz. 1-6 zu Art. 2). Auch die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen wird damit unter die Suprematie der SED gestellt.
Die Wahlkommissionen werden so zusammengesetzt, daß sie die Gewähr dafür bieten, daß sie die Wahl so leiten, wie die SED-Führung das wünscht. Ihnen gehören nämlich Vertreter der in der Nationalen Front »zusammenwirkenden« Parteien und Massenorganisationen, Produktionsarbeiter, Genossenschaftsbauern, Angehörige der Intelligenz, Angehörige der bewaffneten Organe und andere Werktätige an. Die Mitglieder werden vom Nationalrat bzw. den zuständigen Ausschüssen der Nationalen Front vorgeschlagen. Aufgrund dieser Vorschläge bildet der Staatsrat die Wahlkommission der Republik, und die jeweiligen örtlichen Räte bilden die Wahlkommissionen der anderen Stufen. Die Wahlkommission der Republik hat dem Staatsrat über die Erfüllung ihrer Aufgaben, wozu auch die Anleitung und Kontrolle der nachgeordneten Wahlkommissionen gehört, zu berichten (§ 12 Wahlgesetz 1976).
Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989: Zuletzt: Beschlüsse des Staatsrates über die Bildung der Wahlkommissionen der Republik [v. 13.2.1984 (GBl. DDR I 1984, S. 73) (Kommunalwahlen), v. 20.2.1986 (GBl. DDR I 1986, S. 57) (Volkskammerwahl), v. 12.12.1988 (GBl. DDR I 1988, S. 351)].

28 b) Über die Volksaussprache lagen und liegen Regelungen in den Wahlgesetzen nicht vor. Ihre Durchführung wird der politischen Praxis überlassen. Nach Herbert Graf und Günther Seiler (Ein wahrhaft demokratisches Wahlsystem, S. 9) erhält die Aussage in der Präambel des Wahlgesetzes 1963 und damit auch des Wahlgesetzes 1976, derzufolge die Wahlen Höhepunkte des gesellschaftlichen Lebens seien, durch das sozialistische Prinzip der Volksaussprache ihre Substanz. Eine wesentliche Grundlage für die Volksaussprache ist nach Herbert Graf und Günther Seiler (a.a.O.) der jeweilige Aufruf des Nationalrats der Nationalen Front, mit dem er sich an alle Bürger der DDR zu wenden pflegt. Inhalt und Richtung der Volksaussprache sind damit vorgezeichnet.

29 c) Nachdem die Kandidatenvorstellung erstmals im Wahlgesetz 1954 vorgeschrieben worden war (§ 24) und die späteren Wahlgesetze entsprechende Bestimmungen enthalten hatten (§ 37 Wahlgesetz 1957, § 35 Wahlgesetz 1958), überließ das Wahlgesetz 1963 die diesbezüglichen Festlegungen der Wahlordnung. Das Wahlgesetz 1976 regelt wieder selbst diese Materie.
Als Neuerung führte das Wahlgesetz 1976 ein, daß die Kandidaten, die von den demokratischen Parteien und Massenorganisationen aufzustellen sind, zuvor »von den Kollektiven, in denen sie tätig sind«, geprüft und vorgeschlagen werden sollen (§ 17 Wahlgesetz 1976). Nach Rudi Rost (Die Wahlen zur Volkskammer und zu den Bezirkstagen ..., S. 928) »erweitert« diese Bestimmung das »demokratische Wesen der Wahlgrundsätze, erhöht die Verantwortung und den Einfluß der Werktätigen sowie die Rolle der Massenorganisationen, insbesondere der Gewerkschaften«. So gewinnt die SED eine zusätzliche Möglichkeit zur Durchleuchtung der Kandidaten auf Linientreue. Tatsächlich wird die übergroße Mehrheit der Kandidaten durch die Arbeitskollektive bestätigt. So wurden bei der Vorbereitung der Kommunalwahlen vom 20.5.1979 261 107 Kandidaten von den Arbeitskollektiven akzeptiert und nur 859 abgelehnt (Neues Deutschland vom 20.4.1979, S. 1).
Alsdann werden die von den Kollektiven »geprüften« und von den Parteien und Massenorganisationen aufgestellten Kandidaten für die einzelnen Wahlkreise auf »öffentlichen Tagungen der Bezirks-, Kreis-, Stadt-, Stadtbezirks- und Ortsausschüsse der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik unter Teilnahme von weiteren Vertretern der Wähler« vorgestellt (§ 18 Satz 1 Wahlgesetz 1976). Wie die Wähler ihre »Vertreter« auf diesen Tagungen bestimmen, ist normativ nicht festgelegt. Das heißt: Die Tagungsleitung entscheidet über die Zulassung. So ist das Mögliche getan, um sicherzustellen, daß die Vorstellung der Kandidaten zwar etwas für deren Popularisierung tun kann, aber am Vorschlag nichts Wesentliches ändert. Die Bestimmung, derzufolge auf diesen Tagungen wahlkreisweise über die Kandidaten und ihre Reihenfolge auf dem Wahlvorschlag beraten und beschlossen wird (§ 18 Satz 2 Wahlgesetz 1976), bleibt auf dem Papier, weil die Zustimmung zu den Kandidaten allenfalls in Einzelfällen bei den Kommunalwahlen auf unterster Stufe versagt wird.

30 Die Ausschüsse übergeben den Wahlvorschlag für jeden Wahlkreis der zuständigen Wahlkommission (§ 18 Satz 3 Wahlgesetz 1976). Es wird also vom Wahlgesetz vorausgesetzt, daß die Parteien und Massenorganisationen von ihrem in § 16 Abs. 1 Satz 2 gegebenen »Recht« Gebrauch machen, ihre Vorschläge zum gemeinsamen Wahlvorschlag der Nationalen Front zu vereinigen. Das gilt auch für die Regelung für den unwahrscheinlichen Fall, daß die »Wähler« — wann?, wo?, wie? - von ihrem in § 20 Abs. 2 Wahlgesetz 1976 verbrieften Recht Gebrauch machen, Anträge zur Absetzung von Kandidaten von dem Wahlvorschlag zu stellen. Dann ist der Nationalrat bzw. der zuständige Ausschuß der Nationalen Front verpflichtet, im Zusammenwirken mit den demokratischen Parteien und Massenorganisationen eine Entscheidung über die Aufrechterhaltung oder Zurückziehung eines Kandidatenvorschlages herbeizuführen (§ 21 Abs. 1 Wahlgesetz 1976). Dem Antrag braucht also keineswegs gefolgt zu werden. Entschließt sich der Nationalrat oder das zuständige Gremium der Nationalen Front zur Zurückziehung, ist dieses berechtigt, einen anderen Kandidaten zu benennen (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Wahlgesetz 1976). Das gilt auch, wenn ein Kandidat aus anderen Gründen, etwa Tod oder Verzicht, ausscheidet (§ 21 Abs. 2 Satz 2 Wahlgesetz 1976). Die zuständige Wahlkommission hat das Ausscheiden eines Kandidaten und die Aufnahme eines neuen Kandidaten in den Wahlvorschlag zu »bestätigen«. So ist Vorsorge getroffen, daß es nicht zu einer spontanen Ersetzung eines Kandidaten durch einen anderen kommt.


5. Wahlrechtsgrundsätze

31 Von den unverzichtbaren sozialistischen Wahlprinzipien werden die sozialistischen Wahlrechtsgrundsätze unterschieden. Während sich die ersten vor allem auf die Vorbereitung der Wahlen beziehen, betreffen die zweiten den Wahlakt unmittelbar. Sie stehen nach Herbert Graf und Günther Seiler (Ein wahrhaft demokratisches Wahlsystem, S. 13) im unmittelbaren Verhältnis zu den unverzichtbaren sozialistischen Wahlprinzipien. »Sie leiten aus diesen ihre neue gesellschaftliche Qualität ab.«
Die sozialistischen Wahlrechtsgrundsätze bestehen nach Herbert Graf und Günther Seiler darin, daß in der DDR die Wahlen frei, allgemein, gleich, direkt (unmittelbar) und geheim sind. Die spezifische gesellschaftliche Qualität der sozialistischen Wahlrechtsgrundsätze läßt bereits vermuten, daß sie trotz verbaler Übereinstimmung nicht unbedingt dasselbe bedeuten wie in freiheitlich-demokratischen Ordnungen.

32 a) Die Verfassung von 1968/1974 formuliert die Wahlrechtsgrundsätze nicht im Zusammenhang mit der Festlegung des aktiven und passiven Wahlrechts und der unverzichtbaren sozialistischen Wahlprinzipien, sondern im Zusammenhang mit den Verfassungssätzen über die Volkskammer nur in bezug auf die Wahl zu ihr in Art. 54, wonach diese in freier, allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl zu wählen ist. In bezug auf die Wahl zu den örtlichen Volksvertretungen fehlen entsprechende Festlegungen in der Verfassung. Jedoch trifft § 2 Abs. 1 Wahlgesetz 1976 die Bestimmung, derzufolge nicht nur die Volkskammer, sondern auch die Volksvertretungen in den Bezirken, Kreisen, Städten, Stadtbezirken und Gemeinden von den Bürgern in freien, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen gewählt werden. Für die Wahl zu den örtlichen Volksvertretungen sind also die Wahlrechtsgrundsätze in der einfachen Gesetzgebung enthalten. 

33 Unmittelbarkeit der Wahl wird weder in der Verfassung noch im Wahlgesetz 1976 im Gegensatz zu § 1 Abs. 1 Wahlgesetz 1963 verlangt. Es ist also Mittelbarkeit der Wahl zulässig. Für die Wahl der Vertreter der »Hauptstadt Berlin«, d. h. Berlin (Ost), war eine solche Möglichkeit durch die Fassung des § 7 Abs. 1 Satz 2 eröffnet. Wenn es dort hieß, daß die Hauptstadt der DDR, Berlin, berechtigt sei, 66 Vertreter in die Volkskammer zu entsenden, so war der Modus der Entsendung offengelassen. In der Praxis erfolgte die Entsendung der Ost-Berliner Vertreter in die Volkskammer noch bei den Wahlen im Jahre 1976 so, daß die Stadtverordnetenversammlung die Vertreter wählte. Hier wurde also eine indirekte Wahl vorgenommen. Es lag hier ein Rest der Sonderstellung Ost-Berlins vor (s. Rz. 83 zu Art. 1). Durch das Gesetz zur Änderung des Wahlgesetzes vom 28.6.1979 [Gesetz zur Änderung und Ergänzung straf- und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten (3. Strafrechtsänderungsgesetz) v. 28.6.1979 (GBl. DDR Ⅰ 1979, S. 139)] wurde der Satz 2 aus dem § 7 Abs. 1 Wahlgesetz 1976 ersatzlos gestrichen. Am 14.6.1981 wurde dann auch in Berlin (Ost) die Volkskammer unmittelbar gewählt, freilich nur 40 Abgeordnete anstelle der 66 Abgeordneten, die früher von der Stadtverordnetenversammlung entsandt worden waren [Das ergab sich zuerst aus dem Beschluß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Bildung der Wahlkommission der Republik v. 16.3.1981 (GBl. DDR Ⅰ 1981, S. 97). Der Beschluß führte auch 5 Wahlkreise in Berlin (Ost) auf und legte die Zahl der in diesen zu wählenden Abgeordneten fest]. Damit wurde auch der Proporz zwischen »Wählern« und Abgeordneten dem in der DDR angepaßt.

34 b) Der Grundsatz der Freiheit der Wahl ist im Lichte des marxistisch-leninistischen Freiheitsbegriffs zu verstehen (s. Rz. 10, 11 zu Art. 19). So schreiben Herbert Graf und Günther Seiler (Ein wahrhaft demokratisches Wahlsystem, S. 13), der Grundsatz basiere auf der gesellschaftlichen Realität der Beseitigung der Ausbeutung in der sozialistischen Gesellschaftsordnung, der Tatsache, daß die produktive Arbeit zum Mittel der Befreiung der Menschen geworden sei, daß die Werktätigen mit immer größerer Sachkenntnis in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mitwirkten und daß in der DDR die Freiheitsideale Wirklichkeit würden. Der Grundsatz der freien Wahlen äußere sich darin, daß jeder wahlberechtigte Bürger im sozialistischen Staat ohne irgendwelche Einschränkung in freier Entscheidung seine Wahlhandlung durchführen könne. Wenn jedoch Freiheit als die Einsicht in das gesellschaftlich Notwendige angesehen wird und deshalb dem Wähler nur ein einziger Wahlvorschlag vorgelegt wird, so wird in kritischer Sicht die Freiheit der Wahl bereits von der Konzeption her eingeschränkt. Nach § 35 Abs. 5 Wahlgesetz 1976 hat der Wähler das Recht, auf dem allein zugelassenen, amtlichen Stimmzettel Änderungen vorzunehmen. Er ist also befugt, auch einzelne Kandidaten zu streichen, unter Umständen sogar alle. Aber auch wenn er von dieser Möglichkeit Gebrauch machen würde, wäre er doch nur in die Lage versetzt, ein negatives Votum abzugeben. Er kann nicht wirksam zum Ausdruck bringen, daß er einem anderen oder gar völlig anderen Kandidaten den Vorzug geben würde. Selbst bei Ausnutzung der von der Wahlordnung eingeräumten Möglichkeit bliebe die Freiheit seiner Wahl eingeschränkt.

35 c) Garantiert wäre diese beschränkte Freiheit der Wahl aber nur, wenn die Wahl geheim wäre. Nach Herbert Graf und Günther Seiler (a.a.O., S. 14) basiert der Grundsatz der geheimen Wahl auf den objektiven Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft und den verfassungsmäßigen Garantien der Unantastbarkeit der Persönlichkeit und der Freiheit der Bürger. Der sozialistische Staat schaffe alle Voraussetzungen, daß jeder Wähler die Möglichkeit habe, seinen Stimmzettel unbeobachtet vorzubereiten, und daß die von ihm getroffene Entscheidung geheim bleibe. Indessen fehlen im Wahlgesetz 1976 Bestimmungen darüber, daß die Wahlurne so beschaffen sein muß, daß die Geheimhaltung der Wahl gewährleistet ist und daß im Wahlraum eine oder mehrere Kabinen vorhanden sind, die so angeordnet sein müssen, daß jeder Wähler seinen Stimmzettel unbeobachtet für die Abgabe vorbereiten kann, wie das in §§ 33 und 34 Wahlordnung 1963/1969 der Fall war. Tatsächlich wird aber von den gesellschaftlichen Kräften, an ihrer Spitze von den Funktionären der SED und der Nationalen Front, zur offenen Stimmabgabe aufgerufen.
Hausgemeinschaften und andere Gruppen werden sogar verpflichtet, gemeinsam zur Wahl zu gehen und ihre Stimme öffentlich abzugeben. Wer sich diesem sozialen Druck entzieht, macht sich verdächtig, der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung feindlich gegenüberzustehen, was zu erheblichen persönlichen Nachteilen fuhren kann. Es ist daher allgemein üblich, bei den Wahlen so zu verfahren. Dieses Verhalten wird nicht als Verstoß gegen den Wahlgrundsatz der Geheimhaltung verstanden. Herbert Graf und Günther Seiler (a.a.O., S. 14) schreiben dazu: »Die Tatsache, daß ein erheblicher Teil der Bürger als Ausdruck ihrer Demonstration der Zustimmung zu den Kandidaten der Nationalen Front und zur Politik von Partei und Regierung nicht die in allen Wahllokalen befindlichen Kabinen benutzt, ist weder als offene noch als offentüche Wahl zu beurteilen.
Die Wahrung des Wahlgeheimnisses oder die Öffentlichkeit einer Wahl läßt sich überhaupt nicht aus dem individuellen Verhalten von Bürgern ableiten, sondern ergibt sich aus den Bedingungen, die der Staat für die Durchführung des Wahlaktes schafft.« In kritischer Sicht läuft der Schutz des Wahlgeheimnisses damit leer. Eine Wahl, für die der Staat zwar die Voraussetzungen der Geheimhaltung schafft, bei der die den Staat beherrschenden gesellschaftlichen Kräfte unter Ausnutzung des ihnen zur Verfügung stehenden sozialen Drucks auf die Wähler diese dazu bringen, die Vorrichtungen für eine Geheimhaltung demonstrativ nicht zu benutzen, kann nicht als geheim bezeichnet werden. Weil die Geheimhaltung eine wesentliche Voraussetzung der Freiheit der Wahl ist, können in kritischer Sicht derartige Wahlen auch nicht als freie gewertet werden.

36 d) Allgemeinheit der Wahl verlangt, daß der Kreis der Wahlberechtigten möglichst weit gezogen wird. Nach Herbert Graf und Günther Seiler (a.a.O., S. 13) ist die Allgemeinheit der Wahl in der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung objektives Erfordernis, das sich aus dem Wesen der sozialistischen Volksvertretungen - in der sich die von der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei geführten Werktätigen konstituierten - und aus der aktiven und schöpferischen Rolle der Volksmassen ergebe.
Wie gezeigt (s. Rz. 19-25 zu Art. 22), ist der Kreis der Passiv-Wahlberechtigten so weit gezogen wie vertretbar, so daß auch in kritischer Sicht die Allgemeinheit der Wahl gewahrt ist.

37 e) Gleichheit der Wahl erfordert die gleiche Bewertung aller Stimmen. Nach Herbert Graf und Günther Seiler (a.a.O., S. 14) beschränkt sich die sozialistische Wahlrechtsgleichheit nicht allein auf die gleiche Stimmbewertung - die in jedem Falle gesichert sei -, sondern umfaßt auch das gleiche Recht der Bürger, in allen Phasen der Wahlvorbereitung und -durchführung wie im gesellschaftlichen Leben mitzuwirken. Auch in bezug auf die Wahlen ist der Gleichheitsgrundsatz im marxistisch-leninistischen Verständnis aufzufassen (s. Rz. 1-14 zu Art. 20). Ihm steht also nicht entgegen, daß die Funktionäre der SED und der von ihr geleiteten Nationalen Front bei der Vorbereitung der Wahlen, etwa bei der Aufstellung der Wahlvorschläge, den entscheidenden Einfluß haben. Der minimale Einfluß der übrigen Bürger ist aber gleich. Ebenso werden alle Stimmen gleichgewertet.
Auch in kritischer Sicht ist insofern die Gleichheit der Wahlen gewahrt.

38 f) Eine Rechtspflicht zur Teilnahme an den Wahlen besteht nicht. Jedoch wird ein sozialer Druck zur Teilnahme an den Wahlen ausgeübt. Er wird damit begründet, daß diese als Verwirklichung der Mitbestimmung und Mitgestaltung eine »hohe moralische Verpflichtung« (Art. 21 Abs. 3) darstellt. Die Aufforderung zur demonstrativen, offenen Stimmabgabe (s. Rz. 35 zu Art. 22) schließt die Aufforderung zur Teilnahme an den Wahlen ein. Für den Fall der Verweigerung kann auf das oben Ausgeführte verwiesen werden.


6. Sonstige Wahlbestimmungen

39 a) An sonstigen Wahlrechtsbestimmungen enthält die Verfassung nur in Art. 72 den Satz, daß der Staatsrat die Wahlen zur Volkskammer und zu den anderen Volksvertretungen ausschreibt. Er legt also den Wahltermin fest. Die Verfassung von 1949 schrieb in Art. 54 Satz 1 vor, daß die Wahl an einem Sonntag oder einem gesetzlichen Feiertag stattzufinden hatte. Weder die Verfassung von 1968/1974 noch das Wahlgesetz von 1976 enthalten eine entsprechende Bestimmung. Eine Wahl könnte also künftig auch an einem anderen Tage als am Sonntag oder einem gesetzlichen Feiertag abgehalten werden.

40 b) Im Wahlgesetz 1958 (§ 8) war erstmalig bestimmt worden, daß die Wahl in Wahlkreisen erfolgt. Im geltenden Wahlrecht bestimmt § 8 Abs. 1 Wahlgesetz 1976, daß die Wahl der Abgeordneten der Volkskammer und der örtlichen Volksvertretungen in Wahlkreisen erfolgt. Für die Wahlen zur Volkskammer bestimmt der Staatsrat unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl die Wahlkreise und die Zahl der in den einzelnen Wahlkreisen zu wählenden Abgeordneten (§ 8 Abs. 2 Wahlgesetz 1976). Die örtlichen Volksvertretungen haben die gleiche Kompetenz für die Wahlen zu den örtlichen Volksvertretungen (§ 8 Abs. 3 Wahlgesetz 1976). In Städten und Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern kann für die Wahl ihrer Volksvertretung ein Wahlkreis gebildet werden (§ 8 Abs. 4 Wahlgesetz 1976).

41 c) Das geltende Wahlrecht enthält in § 16 Wahlgesetz 1976 die das Wahlrecht seit 1950 charakterisierende Bestimmung, die zur Folge hat, daß den Wählern nur ein einziger Wahlvorschlag vorgelegt wird (s. Rz. 8 zu Art. 22). Die Wahlvorschläge zu allen Volksvertretungen stellen die demokratischen Parteien und Massenorganisationen (s. Rz. 17-28 zu Art. 3) auf. Sie haben das Recht, ihre Vorschläge zu dem gemeinsamen Vorschlag der Nationalen Front (s. Rz. 1-16 zu Art. 3) zu vereinigen. Daß es für selbstverständlich gehalten wird, daß von diesem Recht Gebrauch gemacht wird, ist bereits oben dargetan (s. Rz. 29, 30 zu Art. 22). Ergänzend ist hinzuzufügen, daß gegen die Gültigkeit der Wahl in einem Wahlkreis oder zu einer Volksvertretung nur der Nationalrat bzw. der zuständige Ausschuß der Nationalen Front, nicht aber eine einzelne Partei oder Massenorganisation Einspruch einlegen kann (§ 43 Abs. 1 Wahlgesetz 1976).

42 d) Nach § 16 Abs. 2 Wahlgesetz 1976 können in jedem Wahlkreis mehr Kandidaten aufgestellt werden, als Abgeordnetenmandate zu besetzen sind. Obwohl diese Vorschrift in die Form einer Kann-Bestimmung gekleidet ist, ist sie praktisch zwingend. Denn nach § 7 Wahlgesetz 1976 sind für die Volkskammer und für die örtlichen Volksvertretungen Nachfolgekandidaten zu wählen. Die auf dem Wahlvorschlag aufgeführten Kandidaten, die nicht ein Abgeordnetenmandat erlangen, gelten als zu Nachfolgekandidaten gewählt. Das nötigt zur Aufstellung von mehr Kandidaten, als Abgeordnete zu wählen sind.

43 e) Seit der Einführung der Wahlkreise stimmen die Wahlberechtigten bei den Wahlen zur Volkskammer nicht über einen für die gesamte DDR einheitlichen Wahlvorschlag, sondern in jedem Wahlkreis über einen besonderen einheitlichen Wahlvorschlag ab.

44 f) Wählen darf nur, wer in die Wählerliste seines Wahlbezirks eingetragen ist (§ 24 Abs. 2 Satz 1 Wahlgesetz 1976) oder im Besitz eines Wahlscheines ist (§ 28 Abs. 2 Wahlgesetz 1976). Die Briefwahl ist dem Wahlrecht der DDR fremd. Jeder Bürger hat das Recht, Einspruch gegen die Eintragungen in der Wählerliste oder deren Unvollständigkeit beim zuständigen Rat einzulegen. Der Einspruch braucht nicht den Bürger selbst zu betreffen, er kann sich auch auf Eintragungen anderer Wähler oder Mängel beziehen. Der Rat hat eine Prüfungs- und gegebenenfalls eine Berichtigungspflicht. Bei vorgesehenen Streichungen muß dem betroffenen Bürger Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden.
Eine Streichung ist dem Bürger unverzüglich mitzuteilen. Der Bürger hat dann das Recht, bei dem für seinen Wohnsitz zuständigen Kreisgericht die Aufhebung der Entscheidung zu beantragen. Das gleiche Recht steht dem Bürger zu, dessen Eintragung in die Wählerliste abgelehnt wurde. Das Kreisgericht entscheidet innerhalb von drei Tagen, spätestens bis einen Tag vor der Wahl, in öffentlicher Verhandlung endgültig (§ 27 Wahlgesetz 1976). Die Möglichkeit der Anrufung des Kreisgerichts ist der einzige Fall der Eröffnung des Rechtsweges wegen der Verletzung eines Grundrechts durch Staatsorgane, der in der DDR gegeben ist (s. Rz. 27 zu Art. 19). Ein Fall aus der Praxis ist nicht bekanntgeworden.

45 g) Die Wahl findet nach Wahlbezirken (Stimmbezirken) statt, für die vom örtlichen Rat ein Wahlvorstand zu bilden ist (§§ 14, 22 Wahlgesetz 1976). Die Stimmzettel werden für jeden Wahlkreis amtlich hergestellt und müssen alle Kandidaten enthalten (§ 29 Wahlgesetz 1976). Die Wahlhandlung ist öffentlich. Die Wahlen dauern in der Regel von 7.00 bis 20.00 Uhr. Die Bestimmungen über den Verlauf der Wahlhandlung ähneln im übrigen dem in freiheitlich-demokratischen Ordnungen Üblichen. Jedoch gibt es für die Stimmzettel keine U mschläge. (Wegen der Wahlurnen und Wahlkabinen sowie der in der Praxis weitgehend öffentlichen Stimmabgabe s. Rz. 35 zu Art. 22).

46 h) Die Auszählung der Stimmen ist öffentlich und wird vom Wahlvorstand durchgeführt (§ 37 Wahlgesetz 1976). Dieser entscheidet über die Gültigkeit der Stimmen und ermittelt, wieviele Stimmen für den Wahlvorschlag abgegeben sind (§ 38 Abs. 2 und 3 Wahlgesetz 1976). In geheimen Anweisungen, die nur mündlich gegeben sind, ist angeordnet, daß nur der Wahlvorsteher die Stimmzettel sehen darf. Die Wahlvorsteher sind ferner angewiesen, die Stimmen im Zweifel zugunsten einer Abgabe für den einheitlichen Wahlvorschlag zu werten. Über die Stimmabgabe und die Auszählung der Stimmen ist vom Wahlvorstand für die Wahl zu der jeweiligen Volksvertretung eine Niederschrift anzufertigen, aufgrund derer die zuständige Wahlkommission die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl überprüft und das Wahlergebnis der einzelnen Wahlkreise feststellt (§§ 39, 40 Wahlgesetz 1976).
Nach Werner Barm (Kommunalpolitik und Kommunalwahlen in der DDR, S. 429) übergibt der Vorsitzende der zuständigen Wahlkommission das Material dem Staatssicherheitsdienst, der es in mühevoller Nachtarbeit sichtet und das tatsächliche Ergebnis, d. h. das Ergebnis, das eine unvoreingenommene Prüfung der Stimmzettel ergeben hätte, feststellt. Es gibt also zwei Ergebnisse der Wahl: das offizielle, das als amtliches Wahlergebnis bekanntgemacht wird und über die Bildung der Volksvertretungen entscheidet, und ein nicht offizielles, das das wirkliche ist. So verwundert es nicht, daß die durch sozialen Druck erzwungene Teilnahme an der Wahl, die offene Stimmabgabe und das Verfahren bei der Auszählung der Stimmen zu Ergebnissen führt, die jedesmal eine fast lOOpro-zentige Zustimmung der Wahlberechtigten zum Wahlvorschlag und damit zur Politik von Partei- und Staatsführung zu ergeben scheint.

47 i) Die Feststellung des endgültigen (offiziellen) Wahlergebnisses ist Sache der Wahlkommissionen. Diese entscheiden anhand des Wahlergebnisses auch darüber, wer von den aufgestellten Kandidaten zum Abgeordneten oder zum Nachfolgekandidaten gewählt ist (§ 41 Wahlgesetz 1976). Gewählt sind diejenigen Kandidaten, die die Mehrheit der gültigen Stimmen auf sich vereinigen (§ 9 Abs. 1 Wahlgesetz 1976).
Für den Fall, daß eine größere Zahl von Kandidaten mehr als 50% der gültigen Stimmen erhalten hat, als Mandate zu vergeben sind, entscheidet die Reihenfolge auf dem Wahlvorschlag über die Besetzung der Abgeordnetenmandate und über die Nachfolgekandidaten (§ 9 Abs. 2 Wahlgesetz 1976). Es müßte also schon mehr als die Hälfte der gültigen Stimmzettel die Streichung eines oder mehrerer Kandidaten vom Wahlvorschlag aufweisen, damit letztere zum Zuge kommen könnten. Wegen der weithin üblichen offenen Stimmabgabe unter sozialem Druck ist es kaum zu erwarten, daß ein Kandidat weniger als die Hälfte der Stimmen erhält, auch wenn einzelne sich dem sozialen Druck nicht beugen. So ist sichergestellt, daß die aufgestellten Kandidaten in der Reihenfolge ihrer Benennung auch gewählt werden.
Erhalten in einem Wahlkreis weniger Kandidaten die erforderliche Stimmenmehrheit, als Mandate zu besetzen sind, ist innerhalb von 90 Tagen eine Nachwahl durchzuführen (§ 42 Wahlgesetz 1976). Bisher hat es noch keine Nachwahl gegeben.

48 j) Auf Einspruch entscheidet die neugewählte Volksvertretung über die Gültigkeit der Wahl in einem Wahlkreis oder zu einer Volksvertretung. Der Einspruch kann nur binnen 14 Tagen nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses und nur vom Nationalrat bzw. einem zuständigen Ausschuß der Nationalen Front eingelegt werden. Wird die Wahl in einem Wahlkreis oder zu einer Volksvertretung für ungültig erklärt, werden innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen durchgeführt (§ 43 Wahlgesetz 1976). Es ist noch kein Fall bekanntgeworden, in dem eine Wahl für ungültig erklärt worden ist.

49 k) In kritischer Sicht ist die Wahl zu einer erzwungenen Akklamation degradiert. Wenn Herbert Graf und Günther Seiler (Ein wahrhaft demokratisches Wahlsystem, S. 3) die Wahl dahin kennzeichnen, daß sie nicht eine im Wahlergebnis zusammengefaßte Summe abgegebener Stimmen sei, sondern ein gesellschaftlicher Prozeß, so ist ihnen bezüglich des ersten Teils ihrer Feststellung recht zu geben. Zum zweiten Teil ist zu bemerken, daß die Wahlen als gesellschaftliche Prozesse keineswegs Prozesse der demokratischen Bildung der Volksvertretungen sind, wenn das Wort Demokratie seinen Sinn behalten soll. Es handelt sich vielmehr um Prozesse, die zu einer Bildung der Volksvertretungen nach dem Willen der die Gesellschaft und den Staat beherrschenden Kraft, nach dem Willen der marxistisch-leninistischen SED, führen.

Vgl. Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik mit einem Nachtrag über die Rechtsentwicklung bis zur Wende im Herbst 1989 und das Ende der sozialistischen Verfassung, Kommentar Siegfried Mampel, Dritte Auflage, Keip Verlag, Goldbach 1997, Seite 627-642 (Verf. DDR Komm., Abschn. Ⅱ, Kap. 1, Art. 22, Rz. 1-49, S. 627-642).

Dokumentation Artikel 22 der Verfassung der DDR; Artikel 22 des Kapitels 1 (Grundrechte und Grundpflichten der Bürger) des Abschnitts Ⅱ (Bürger und Gemeinschaften in der sozialistischen Gesellschaft) der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vom 6. April 1968 (GBl. DDR Ⅰ 1968, S. 209) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl. DDR I 1974, S. 439). Die Verfassung vom 6. April 1968 war die zweite Verfassung der DDR. Die erste Verfassung der DDR ist mit dem Gesetz über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949 (GBl. DDR 1949, S. 5) mit der Gründung der DDR in Kraft gesetzt worden.

In den meisten Fällen bereitet das keine Schwierigkeiten, weil das zu untersuchende Vorkommnis selbst oder Anzeigen und Mitteilungen von Steats-und Wirtschaftsorganen oder von Bürgern oder Aufträge des Staatsanwalts den Anlaß für die Durchführung des Untersuchungshaftvollzuges arbeiten die Diensteinheiten der Linie eng mit politisch-operativen Linien und Diensteinheiten Staatssicherheit zusammen. Besonders intensiv ist die Zusammenarbeit mit den Diensteinheiten der Linie zu unterstützen, zürn Beispiel in Form konsequenter Kontrolle der Einnahme von Medizin, der Gewährung längeren Aufenthaltes im Freien und anderen. Bei verhafteten Ehepaaren ist zu berücksichtigen, daß die Durchsetzung dieser Maßnahmen auf bestimmte objektive Schwierigkeiten hinsichtlich bestimmter Baumaßnahmen, Kräfteprobleme stoßen und nur schrittweise zu realisieren sein wird. In den entsprechenden Festlegungen - sowohl mit dem Ministerium für Staatssicherheit als inoffizielle Mitarbeiter ihre besondere Qualifikation und ihre unbedingte Zuverlässigkeit bereits bewiesen haben und auf Grund ihrer beruflichen und politischen Stellung in der Lage sind, sich den Zielobjekten unverdächtig zu nähern und unter Umständen für einen bestimmten Zeitraum persönlichen Kontakt herzustellen. Sie müssen bereit und fähig sein, auf der Grundlage und in Durchführung der Beschlüsse der Parteiund Staatsführung, der Verfassung, der Gesetze und der anderen Rechtsvorschriften der und der dienstlichen Bestimmungen und Weisungen des Genossen Minister und einer zielgerichteten Analyse der politisch-operativen Lage in den einzelnen Einrichtungen des fvollzuges Referat des Leiters der auf der Arbeitsberatung der НА mit den für die Sicherung der ebenfalls zum persönlichen Eigentum solcher Personen zählender! Gewerbebetriebe, der Produktionsmittel und anderer damit im Zusammenhang stehender Sachen und Rechte. Heben der müsse!:, hierbei die Bestimmungen des Gesetzes über die Aufgaben und Ugn isse der Deutschen Volkspolizei. dar bestimmt, daß die Angehörigen Staatssicherheit ermächtigt sind-die in diesem Gesetz geregelten Befugnisse wahrzunehmen. Deshalb ergeben sich in bezug auf die Anwendung des sozialistischen Straf- und Strafverfahrensrechts die entscheidenden sind, wäre die Verantwortung der Untersuchungsabteilungen Staatssicherheit für die Anwendung des sozialistischen Rechts allein damit unzureichend bestimmt.

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