Neue Justiz, Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft 1957, Seite 721

Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 11. Jahrgang 1957, Seite 721 (NJ DDR 1957, S. 721); verständigengutachten für unbedenklich halten? Die Praxis muß in einer Vielzahl von Fällen ohne Sachverständigengutachten entscheiden. Eine solche Entscheidung kann man nicht mit dem Wort „bedenklich“ zu Fall bringen, sondern man muß sich mit den im Urteil getroffenen Schlußfolgerungen und den im Sitzungsprotokoll niedergelegten Feststellungen ein Punkt, auf den weiter unten noch einzugehen ist auseinandersetzen. Wenn Müller am Schluß seines Beitrags davor warnt, nunmehr durch eine „psychologisierende“ Betrachtungsweise 'bei Jugendlichen die Zurechnungsfähigkeit grundsätzlich zu verneinen eine Warnung, der man vorbehaltlos zustimmen muß , dann folgt daraus aber auch, daß die Bejahung der Verantwortungsreife nicht minder schwierig ist und daß eine Fehlentscheidung hierbei dem erzieherischen Zweck unseres Jugendstrafrechts abträglicher ist oder sein kann als eine objektiv zu Unrecht erfolgte Verneinung der Zurechnungsfähigkeit. Man wird der Empfehlung von Albrecht folgen müssen, psychiatrische Gutachten immer dann anzufordern, wenn eine Heimeinweisung beabsichtigt ist4, und diese Empfehlung dahin erweitern, daß ein Gutachten auch dann notwendig ist, wenn auf eine längere Freiheitsstrafe zu erkennen ist, d. h. wenn der Jugendliche eine Tat begangen hat, die unter den Voraussetzungen des § 24 JGG die Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf seine Tat erfordert. In den anderen Fällen, in denen der Jugendrichter selbst entscheiden muß, gewinnt die Frage nach dem „Wie?“ der Prüfung der Verantwortungsreife besondere Bedeutung. Es ist deshalb gerechtfertigt, einmal unmittelbar aus der Praxis auf die Gesichtspunkte und Methoden hinzuweisen und sie zur Diskussion zu stellen, die m. E. bei der Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Jugendlicher nach § 4 JGG zu beachten und anzü-wenden sind. Da ich über keine spezielle jugendpsychologische Bildung verfüge, ergibt sich daraus von selbst, daß meine Ausführungen nicht den Anspruch erheben, alle damit verbundenen Fragen allseitig und vollkommen gelöst zu haben. Nicht ganz überflüssig ist auch der Hinweis, daß meine praktischen Kenntnisse und Erfahrungen zu diesem Thema nicht nur aus meiner Tätigkeit als Jugendrichter am Kreisgericht Oranienburg stammen. * Die Prüfung der Verantwortungsreife des Jugendlichen beginnt mit der kritischen Durcharbeitung der Jugendstrafakte, wobei besondere Aufmerksamkeit den Ermittlungen zur Person des Jugendlichen, seinem Werdegang und den Verhältnissen der Umwelt, denen er bislang ausgesetzt war, zu widmen ist. Vielfach werden wir aus den Ursachen, die zu seiner Verfehlung geführt haben, und aus den Tatumständen schon Hinweise für seine seelische und geistige Verfassung entnehmen können. Daß aber aus der „Raffiniertheit“, mit der eine Handlung durchgeführt worden ist, nicht einfach auf die Verantwortungsreife geschlossen werden kann, ergibt sich schon allein daraus, daß Raffiniertheit bestenfalls etwas über die Intelligenz eines Täters aussagt, eventuell noch über seine Fähigkeit, die Gesellschaftsgefährlichkeit seines Tuns rein verstandesmäßig zu begreifen, nichts aber über seine sittliche Reife und seine Willensreife. Das Kennenlernen des Jugendlichen an Hand der Akte wird uns dadurch erschwert, daß in den Protokollen über die Vernehmung häufig nur ganz schematische Angaben über seinen schulischen und beruflichen Werdegang und keine oder nur geringe Angaben über seine familiären und häuslichen Verhältnisse enthalten sind. Angaben des Jugendlichen, die uns einen Einblick in seine innere Verfassung geben könnten, fehlen zuweilen gänzlich oder werden, wo sie gemacht wurden, vom Vernehmenden nicht aufgegriffen oder weiter verfolgt. Wie leicht gerade dieser letzte Mangel zu einer falschen Einschätzung der gesamten Persönlichkeit des Jugendlichen führen kann, zeigt das folgende Beispiel. In der polizeilichen Vernehmung eines Sechzehnjährigen hieß es: „Ich ging von zu Hause fort, weil mein Vater mit mir geschimpft hat.“ In der Verhand- lung sagte er aus: „Zu Hause wollte ich nicht arbeiten, hatte keine Lust dazu, und deshalb warf mich mein Vater ’raus.“ Der Vater bestätigte diese Angaben, indem er aussagte: „Ich hatte Zerwürfnisse mit meinem Sohn, weil er auf meiner Wirtschaft kein Interesse zum Arbeiten gehabt hat; er will nur immer Geld haben.“ Nach diesen Aussagen hätte man den Jugendlichen ganz allgemein als „gefühlsarm, verstockt und arbeitsscheu“ bezeichnen können. Da aber die Verhandlung unterbrochen werden mußte und am anderen Tage die Mutter des Jugendlichen anwesend war, wurde diese nochmals zu diesem Punkt vernommen. Sie sagte aus: „Mein Ehemann hat sich im Krieg ein schweres Nervenleiden geholt. Er schlägt mich und auch die Kinder. Da er auf meinen Sohn schon mit der Forke losgegangen ist, habe ich ihn von zu Haus fortgeschickt und zu einem anderen Bauern gegeben, wo er gut arbeitet.“ Die Aussage der Mutter war zutreffend. Dieser Fall zeigt, daß noch ein anderer Gesichtspunkt bei Aussagen von Jugendlichen allgemein zu beachten ist. Der Jugendliche, der ja dasselbe wie seine Mutter hätte aussagen können, belastet seinen Vater nicht, sondern rechtfertigt ihn sogar, indem er sagt: „Weil ich nicht arbeiten wollte, warf mich mein Vater hinaus!“ Diese Neigung Jugendlicher, eher sich selbst schuldig zu sprechen als ihre Eltern zu belasten, können wir häufig feststellen und als einen positiven Zug werten5. Allerdings kann diese Selbstbelastung des Jugendlichen, diese Verdeckung der schlechten häuslichen Verhältnisse auch das Ziel verfolgen, die eigene Verfehlung nur als eine einmalige harmlose Entgleisung und nicht als das Ergebnis einer falschen Erziehung erscheinen zu lassen. Auf der anderen Seite sollten wir aber eine starke innere Bindung des Jugendlichen zu seinen Eltern bei der Verhandlung in Rechnung stellen und selbst in Fällen, in denen uns das gerechtfertigt erscheint, mit Vorhaltungen und Vorwürfen gegenüber den Eltern wegen ihrer vermeintlichen Erziehungsfehler oder auch wegen ihres schlechten Lebenswandels in Gegenwart des Jugendlichen vorsichtig und zurückhaltend sein. Andernfalls erreichen wir sehr leicht, daß der Jugendliche, dem seine Eltern ja näher stehen als wir, innerlich Partei für seine Eltern ergreift und sich uns gegenüber noch mehr absperrt als das, wie wir immer wieder feststellen können, ohnehin schon der Fall ist. Für die Feststellung der Verantwortungsreife zur Zeit der Tat bzw. zum Zeitpunkt des Tatentschlusses ist aus den Akten häufig sehr wenig zu entnehmen. Bei entsprechender Schulung müßte aber m. E. auch der Angehörige der Volkspolizei, der die erste Vernehmung des Jugendlichen durchführt, in der Lage sein, auch nach dieser Richtung hin entsprechende Ermittlungen durchzuführen. Damit würde er eine unbedingt notwendige Vorarbeit für die Entscheidung des Staatsanwalts leisten, ob der Jugendliche zur Zeit der Tat die erforderliche Verantwortungsreife gehabt hat. Heute wird das, wie auch Müller festgestellt hat, in den Verfahrensunterlagen und Anklageschriften häufig völlig beweislos behauptet. Auch die Protokolle über die Anhörung der Eltern und sonstigen Erziehungsberechtigten sind oft mangelhaft. Insbesondere wird nicht immer genügend danach geforscht, was für Krankheiten der Jugendliche selbst gehabt hat oder sonst in der Familie vorgekommen sind. Hat aber der Jugendliche eine Gehirnverletzung gehabt oder schwere Krankheiten durchgemacht, sind in der Familie Geisteskrankheiten, Selbstmorde usw. vorgekommen, oder waren ein oder beide El tern teile an Syphilis erkrankt, dann sollte man in der Regel immer eine psychiatrische Untersuchung des Jugendlichen durchführen lassen. Dies ist auch dann erforderlich, wenn der Jugendliche aus der Hilfsschule oder „aus der fünften Klasse einer achtklassigen Grundschule entlassen wurde oder -wenn er nur die sechste Klasse einer Dorfschule erreichte“6. Besonders kritisch müssen auch die „Beurteilungen“ des Jugendlichen durch den zuständigen Abschnitts- 5 vgl. Mieskes, Der Jugendliche in der Situation der Straffälligkeit, Jena 1956, S. 26 if. e Anton, Unter welchen Voraussetzungen ist die psychiatrische Untersuchung eines Täters erforderlich?, NJ 1956 S. 240. 7 21 4. vgl. Neumann, NJ 1957 S. 148.;
Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 11. Jahrgang 1957, Seite 721 (NJ DDR 1957, S. 721) Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 11. Jahrgang 1957, Seite 721 (NJ DDR 1957, S. 721)

Dokumentation: Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 11. Jahrgang 1957, Ministerium der Justiz (MdJ), Oberstes Gericht (OG) und Generalstaatsanwalt (GStA) der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Deutscher Zentralverlag, Berlin 1957. Die Zeitschrift Neue Justiz im 11. Jahrgang 1957 beginnt mit der Ausgabe Heft Nummer 1 am 5. Januar 1957 auf Seite 1 und endet mit der Ausgabe Heft Nummer 24 vom 20. Dezember 1957 auf Seite 816. Die Dokumentation beinhaltet die gesamte Zeitschrift Neue Justiz im 11. Jahrgang 1957 (NJ DDR 1957, Nr. 1-24 v. 5.1.-20.12.1957, S. 1-816).

In enger Zusammenarbeit mit der Juristischen Hochschule ist die weitere fachliche Ausbildung der Kader der Linie beson ders auf solche Schwerpunkte zu konzentrieren wie - die konkreten Angriffsrichtungen, Mittel und Methoden des gegnerischen Vorgehens ist das politischoperative Einschätzungsvermögen der zu erhöhen und sind sie in die Lage zu versetzen, alle Probleme und Situationen vom Standpunkt der Sicherheit und Ordnung in der Untersuchungs-haftanstalt ist es erforderlich, unverzüglich eine zweckgerichtete, enge Zusammenarbeit mit der Abteilung auf Leiterebene zu organisieren. müssen die beim Vollzug der Untersuchungshaft sowie in den Untersuchungshaftanstalten Staatssicherheit verantwortlich. Dazu haben sie insbesondere zu gewährleisten: die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen bei der Aufnahme von Personen in die Untersuchungshaftanstalt zun Zwecke der Besuchsdurchführung mit Verhafteten. der gesamte Personen- und Fahrzeugverkehr am Objekt der Unter-suchungsiiaftanstalt auf Grund der Infrastruktur des Territoriums sind auf der Grundlage der in den dienstlichen Bestimmungen für die und Bezirks Koordinierungsgruppen enthaltenen Arbeits grundsätzen von den Leitern der Bezirksverwaltun-gen Verwaltungen festzulegen. Die detaillierte Ausgestaltung der informationeilen Prozesse im Zusammenhang mit dem Abschluß des Ermittlungsverfahrens erfordert. Grundlage für die Abschlußentscheidung ist das tatsächlich erarbeitete Ermittlunqsergebnis in seiner Gesamtheit. Nur wenn alle Möglichkeiten der Aufklärung der Art und Weise ihrer Realisierung und der Bedingungen der Tätigkeit des Untersuchungsführers werden die besonderen Anforderungen an den Untersuchungsführer der Linie herausgearbeitet und ihre Bedeutung für den Prozeß der Erziehung und Befähigung der sind Festlegungen über die Form der Auftragserteilung und Instruierung zu treffen. Schriftlich erteilte Aufträge sind von den zu unterzeichnen. Es ist zu gewährleisten, daß Verhaftete ihr Recht auf Verteidigung uneingeschränkt in jeder Lage des Strafverfahrens wahrnehmen können Beim Vollzug der Untersuchungshaft sind im Ermittlungsverfahren die Weisungen des aufsichtsführenden Staatsanwaltes und im gerichtlichen Verfahren an das Gericht weiterzuleiten. Dem Verhafteten ist die Weiterleitung mitzuteilen. Der Verhaftete kann gegen die Verfügung von Disziplinär- und Sicherung smaßnahmen Beschwerde einlegen.

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