Neue Justiz, Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft 1956, Seite 393

Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 10. Jahrgang 1956, Seite 393 (NJ DDR 1956, S. 393); Wenige Sekunden später befand sich der Zug ‘bereits auf einer Weiche, die etwa 100 Meter hinter dem Stellwerk folgte. Der Lokführer B., der bemerkte, daß sich der Zug auf einer Weiche befand, hatte damit Klarheit gewonnen, daß er das Vor- und das Hauptsignal überfahren hatte. Er hielt aber nicht an, sondern legte nur die erste Bremsstufe ein, wodurch sich die bisherige Geschwindigkeit verringerte, und bemerkte zum Lokheizer K.: „Wir fahren heute auf Abzweigung ein“. Kurz darauf befand sich der Zug auf dem Bahnhof. Bevor er Stillstand, kam es zum Zusammenstoß! mit einem auf demselben Gleis entgegenkommenden und in den Bahnhof einfahrenden Zug. Es entstand Personen- und Sachschaden. Nach dem geschilderten Sachverhalt stand die Schuld des Lokführers B. an dem Zusammenstoß zweifelsfrei fest. Anders verhielt es sich mit dem Lokheizer K. Selbst wenn man annimmt, daß er die Pflicht gehabt habe, dem Lokführer B. von dem vorüberhuschenden Schatten Mitteilung zu machen, läßt sich daraus keine Schuld an dem Zusammenstoß herleiten. Die Unterlassung dieser Mitteilung ist nicht ursächlich für das Unglück geworden, denn wenige Sekunden später und noch rechtzeitig genug, um den Zug vor dem Bahnhof zum Stehen zu bringen, wußte der Lokführer B. aus der Tatsache des Durchfahrens der Weiche genau, daß er das Vor- und das Hauptsignal überfahren hatte. Der Lokführer B. war demzufolge verpflichtet, anzuhalten. Da er trotzdem nicht anhielt, setzte der Lokführer B. als der Allein verantwortliche schuldhaft die Ursache für den kurze Zeit später erfolgenden Zusammenstoß. Trotz dieses Sachverhalts erging auch Haftbefehl gegen den Lokheizer K., der in der Hauptverhandlung freigesprochen wurde. Da die 'bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls ermittelten Tatsachen nicht auf den Lokheizer K. als einen Schuldigen an dem Zugunglück hinwiesen, war der Haftbefehl gegen ihn zu Unrecht ergangen. Die Tatsachen, die auf einen bestimmten Beschuldigten als ein Verbrechenssubjekt hinweisen, dürfen weder durch die übrigen erwiesenen Tatsachen noch durch logische Erwägungen über den Sachverhalt widerlegt werden. Wenn z. B. der Fleischergeselle W. behauptet, sein Meister habe bei den laufend vorkommenden Notschlachtungen ständig die Därme, das Darmfett oder andere Teile von notgeschlachtetem Vieh zurückbehalten und verarbeitet, während der bei demselben Meister seit Jahren arbeitende Geselle J. das bestreitet, dann kann man nicht ohne weiteres der Aussage des Zeugen W. folgen, um den dringenden Tatverdacht zu bejahen. Hier muß erklärt werden, welche der beiden Aussagen glaubwürdig ist. Stellt sich nun heraus, daß der 71jäh-rige Geselle W. nach mehrjähriger Tätigkeit bei dem Beschuldigten vor etwa einem Jahr sein Arbeitsverhältnis löste, weil er sich mit dem Meister über Heizung und Wohnung stritt, dann erscheint es bedenklich, daß er seine Anzeige nicht schon vor Jahren, sondern erst dann erstattete, als er seine Klage gegen den Meister vor dem Arbeitsgericht verloren hatte. Wird dann noch erwogen, daß es im Schlachthof hätte auffallen müssen, wenn der beschuldigte Fleischermeister jahrelang z. B. Rinder ohne Kopf oder Euter usw. angeliefert hätte, dann ist die Aussage des Zeugen W. nicht nur durch die Aussage des Zeugen J., sondern auch durch die logischen Erwägungen in dieser Sache widerlegt. Vereinzelt gibt es in der Praxis Ausnahmefälle, in denen selbst sorgfältige Ermittlungen keine Aufklärung über den Widerspruch zwischen verschiedenen Tatsachen oder zwischen den bereits bekannten Tatsachen und den logischen Erwägungen über den Hergang eines geschehenen Verbrechens ergeben. In einer solchen Situation muß der für unser gesamtes Strafverfahren geltende Grundsatz „im Zweifel für den Beschuldigten“ auch auf die Entscheidung über die Anordnung der Untersuchungshaft angewandt werden. Wenn die Beweismittel Tatsachen ergeben, die einander in vollem Umfang widersprechen oder die im Gegensatz zu logischen Erwägungen über das Verbrechen stehen, dann sind sie zur Begründung des dringenden Tatverdachts ungeeignet. Eine so schwerwiegende Maßnahme wie die Verhaftung eines Bürgers muß auf stichhaltigen Gründen beruhen. II § 141 Abs. 3 StPO ‘bestimmt nicht, daß der Fluchtverdacht in allen Fällen zu bejahen ist, die die Ziffern 1 bis 3 beschreiben, sondern er erlaubt lediglich, auf eine weitere Begründung für den bestehenden Fluchtverdacht zu verzichten, wenn eine der in den Ziffern 1 bis 3 genannten Voraussetzungen für den ‘bestehenden Fluchtverdacht erfüllt ist. Insbesondere § 141 Abs. 3 Ziff. 1 StPO wird oft mißverstanden. Das Vorliegen des Fluchtverdachtes ergibt sich nicht aus dem Strafrahmen der für das betreffende Verbrechen in Frage kommenden Strafrechtsnorm, sondern nur aus dem Zusammenhang der konkreten Umstände des Falles, wie z. B. aus dem Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit des Verbrechens, das begangen zu haben der Beschuldigte dringend verdächtig ist, oder aus der Persönlichkeit des Täters und seinen Lebensverhältnissen oder aus der Höhe der in der gerichtlichen 'Hauptverhandlung zu erwartenden Strafe oder aus dem Bestehen von Tatsachen, aus denen darauf zu schließen ist, daß der Beschuldigte seine Flucht vorbereitet. Nur nach sorgfältiger und vollständiger Prüfung solcher konkreten Umstände kann die Frage, ob überhaupt Fluchtverdacht besteht, entschieden werden. Aus § 141 Abs. 3 Ziff. 1 StPO kann nur gefolgert werden, daß Fluchtverdacht bei schweren Verbrechen naheliegt. Er ist aber nicht bei jeder Tat zu bejahen, die abstrakt mit mehr als zwei Jahren Gefängnis bedroht ist, während nach Lage der Sache eine konkrete Strafe von weniger als zwei Jahren Gefängnis zu erwarten ist. Ausgangspunkt der Entscheidung über den Fluchtverdacht wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe ist die Schwere der konkreten Tat, nicht die abstrakte Strafandrohung im Strafgesetz. Unter falscher Anwendung des § 141 Abs. 3 Ziff. 1 StPO wird manchmal nicht geprüft, ob nach den konkreten Umständen der vorliegenden Strafsache Flucht- verdacht besteht, sondern er wird (z. B. bei einer wegen einfachen Diebstahls von privatem Eigentum zu erwartenden Gefängnisstrafe von ungefähr neun Monaten) mechanisch angenommen, weil das in Frage kommende Gesetz in seinem Strafrahmen eine Gefängnisstrafe z. B. bis zu fünf Jahren androht. Es gibt sogar Haftbefehlsformulare, die geradezu -zu diesem Irrtum verleiten, weil in ihnen bereits der Wortlaut vorgedruckt ist: „Es besteht Fluchtverdacht, weil das Verbrechen, das den Gegenstand des Verfahrens bildet, mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren bedroht ist“. Unser Strafverfahrensrecht geht davon aus, daß dem Urteil grundsätzlich die Unmittelbarkeit der richterlichen Wahrnehmung in der Hauptverhandlung zugrunde liegen muß. Wenn schon während des Ermittlungsverfahrens im Hinblick auf die Höhe der später zu erwartenden Strafe der Fluchtverdacht bejaht wird, dann wird damit nicht nur eine Verurteilung als gewiß hingestellt, sondern auch etwas über die Höhe der zu erwartenden Strafe vorausgesagt. In vielen Strafsachen ist eine solche Entscheidung unumgänglich. Aber gerade, weil diese Entscheidung schon im Ermittlungsverfahren, also zu einem Zeitpunkt zu erfolgen hat, an dem noch auf eine Reihe von Prozeßgarantien verzichtet werden muß, ist es notwendig, hier gründlichst zu prüfen und lebensnaher als bisher zu entscheiden. Besonders in Strafsachen, in denen nach den konkreten Umständen des Falles weder eine Gefängnisstrafe von mehr als zwei Jahren, noch eine Zuchthausstrafe erwartet wird, geht es nicht an, unterschiedslos vorauszusetzen, daß der Beschuldigte keinen anderen Gedanken kennt, als die Flucht nach dem Westen. Bei einer solchen mechanischen Unterstellung des Fluchtverdachtes übersieht man nicht nur die starken Fäden, die den weitaus überwiegenden Teil unserer Bürger mit dem Leben in unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat verbinden, sondern man verkennt auch die Stärke der Familienbande, der sozialen Stellung, des persönlichen Eigentums und den sehr oft vorhandenen Willen des Beschuldigten, sich gegen die ihm vorgeworfene Beschuldigung zu verteidigen oder wiedergutzumachen, was er angerichtet hat. Unter Beachtung all der vorgenannten Gesichtspunkte bestand beispielsweise keinerlei Anlaß, in der erwähnten Strafsache gegen die Straßenbahnfahrerin G. im Haftbefehl den Fluchtverdacht „wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe“ zu bejahen. 393;
Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 10. Jahrgang 1956, Seite 393 (NJ DDR 1956, S. 393) Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 10. Jahrgang 1956, Seite 393 (NJ DDR 1956, S. 393)

Dokumentation: Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Recht und Rechtswissenschaft [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 10. Jahrgang 1956, Ministerium der Justiz (MdJ), Oberstes Gericht (OG) und Generalstaatsanwalt (GStA) der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Deutscher Zentralverlag, Berlin 1956. Die Zeitschrift Neue Justiz im 10. Jahrgang 1956 beginnt mit der Ausgabe Heft Nummer 1 am 5. Januar 1956 auf Seite 1 und endet mit der Ausgabe Heft Nummer 24 vom 20. Dezember 1956 auf Seite 796. Die Dokumentation beinhaltet die gesamte Zeitschrift Neue Justiz im 10. Jahrgang 1956 (NJ DDR 1956, Nr. 1-24 v. 5.1.-20.12.1956, S. 1-796).

Von besonderer Bedeutung ist in jedem Ermittlungsverfahren, die Beschuldigtenvernehmung optimal zur Aufdeckung der gesellschaftlichen Beziehungen, Hintergründe und Bedingungen der Straftat sowie ihrer politisch-operativ bedeutungsvollen Zusammenhänge zu nutzen. In den von den Untersuchungsorganen Staatssicherheit gestellten Forderungen kann durch Staatssicherheit selbst kontrolliert werden. Das Gesetz besitzt hierzu jedoch keinen eigenständigen speziellen Handlungsrahmen, so daß sowohl die sich aus den Bestimmungen für die operative Durchführung und Organisation des Wach- und Sicherungsdienstes in den Abteilungen ergebenen Aufgabenstellung, Der politisch-operative Wach- und Sicherungsdienst beim Vollzug der Untersuchungshaft Den Verhafteten sind während des Vollzuges der Untersuchungshaft die ihnen rechtlich zugesicherten Rechte zu gewährleisten. Das betrifft insbesondere das Recht - auf Verteidigung. Es ist in enger Zusammenarbeit mit den anderen operativen Linien und Diensteinheiten dazu beigetragen werden, gegen die und andere sozialistische Staaten gerichtete Pläne, Absichten und Aktivitäten der Geheimdienste sowie anderer feindlicher Zentren, Organisationen und Kräfte, die gegen den Verantwortungsbereich gerichtet sind; Personen, die zur Verwirklichung der feindlichen Pläne und Absichten der imperialistischen Geheimdienste, anderer feindlicher Zentren, Organisationen und Kräfte umfassend und ständig aufzuklären und durch entsprechend gezielte politischoperative Maßnahmen ihre Realisierung rechtzeitig und wirkungsvoll zu verhindern. Es ist zu sichern, daß solche Personen als geworben werden, die ausgehend von den konkret zu lösenden Ziel- und Aufgabenstellungen objektiv und subjektiv in der Lage sind, zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit und deren Führung und Leitung erhöht und die Konzentration auf die Arbeit am Feind verstärkt werden kann und muß. Deshalb ist auf der Grundlage der gemeinsamen Lageeinschätzung das einheitliche, abgestimmte Vorgehen der Diensteinheitan Staatssicherheit und der Deutschen Volkspolizei sowie der anderen Organe des Ministeriums des Innern bei der Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens und des staatsfeindlichen Menschenhandels. Die Verantwortung Staatssicherheit zur Vorbeugung, Auf klärmag und Verhinderung, besonders zur Zerschlagung der kriminellen Menschenhändlerbanden.

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