Neue Justiz, Zeitschrift für Rechtsetzung und Rechtsanwendung 1990, Seite 249

Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Rechtsetzung und Rechtsanwendung [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 44. Jahrgang 1990, Seite 249 (NJ DDR 1990, S. 249); Neue Justiz 6/90 249 essen der Strafjustiz lassen sich also leichter mit denen dieser Beschuldiigtengruppe 'in Deckung bringen. Und im Unterschied zu den meisten Straftaten im klassischen Bereich ist auch genügend „Verhandlungsmasse“ und Stoff für Absprachen vorhanden, die Fälle sind nicht so leicht entscheidbar. Dies ist gerade ein Strukturmerkmal dieser Deliktsformen. Die zweite Perspektive ist eine systemtheoretische. Die Strafrechtsreformen, die Unternehmenskriminalität qua de-finitionem erst schufen, stellen eine große Herausforderung für dtas straf justitielle System dar. Dieser neuen Aufgabenstellung versuchen die Instanzen durch eine prozessuale Lösung gerecht zu werden. Absprachen mit der Gegenseite de-legitimieren die Strafjustiz nicht, sondern, so seltsam es auch auf den ersten Blick erscheinen mag, legitimieren sie. Die Strafjustiz bewältigt auf diese Weise auch schwierigste Wirtschafts- und Umweltstrafverfahren, ohne sich durch jahrelange Prozesse zu blockieren. Auch die Strafjustiz ist ein Produktionsbetrieb, dessen Hauptprodukt die Verarbeitung von Strafrechtsfällen darstellt. Ein Stillstand der „Fließbänder“ muß daher auf jeden Pall vermieden werden. Absprachen vereinfachen den Produktionsprozeß und sind daher geeignete „Rationalisierungstechniken“. Sie verhindern auch nicht Rechtsdurchsetzung, sondern im Gegenteil, sie unterstützen diese. Schließlich bedeuten Einigungen mit der Verteidigung unter dem Strich nicht Freispruch, sondern Bestrafung. Qualitätskriterien wie Wahrheit und Gerechtigkeit sind zudem keine feststehenden Größen, sondern unterliegen komplexen sozialen Definitionsprozessen, die auch durch die jeweils dominanten gesellschaftlichen Wertmuster bestimmt werden. Und diese stellen sich für Wirtschaftsstraftäter als vergleichsweise günstig dar, da sie im allgemeinen eben nicht als „echte“ Kriminelle gelten. Die Justiz befindet sich also hinsichtlich ihrer Sanktionspraxis kaum in einem Dissens mit der öffentlichen Meinung. Allerdings besitzt die verwendete „Rationalisierungstechnik“ den Ruch des Kungelns, so daß es in einer modernen Kommunikationsgesellschaft nicht ausblieb, daß in relativ kurzer Zeit Absprachen in Strafverfahren zu einem öffentlichen Thema wurden.2! Allerdings müssen Zweifel bestehen, ob diese Diskussionen über das Skandalhafte und die Klassenjustizthese hinausführen und auch zu grundsätzlicheren Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der Strafjustiz anregen. Quintessenz der hier skizzierten System- wie auch handlungstheoretischen Perspektiven ist, daß Absprachen eine Modernisierungsleistung der Justiz bzw. ihrer Beteiligten darstellen. Das Erledigen von Strafverfahren im Konsens mit den Prozeßbeteiligten kann daher nicht nur als eine Form von Klassenjustiz, sondern auch als die prozessuale Antwort der Strafjustiz auf die Anpassung und Erweiterung des strafrechtlichen materiellen Normenbestanids auf neue gesellschaftliche Bedürfnisse verstanden werden. Mit dem traditionell streitigen Prozessieren sind diese Großverfahren offenbar kaum noch zu bewältigen, zumindest nicht in einem Zeitrahmen, der in dem sonstigen Kriminalitätsbereich als vertretbar angesehen wird. Zu sehen ist auch, daß das Strafrecht in einer Risikogesellschaft21 22 23 immer häufiger zur Steuerung neu erkannter gesellschaftlicher Risiken eingesetzt wird. Mit wenigen Eingriffen in den strafrechtlichen Normenbestand läßt sich leicht öffentlichkeitswirksam politische Aktivität demonstrieren. Das Strafrecht droht zu einem Supermarkt zu verkommen, aus dem jede Interessengruppe mit einem vollen Warenkorb herausfahren möchte. So gesehen, lassen sich Absprachen in Strafverfahren auch als „Gerechtigkeit zu Schleuderpreisen“ interpretieren. Die begrenzte Leistungsfähigkeit der Klassenjustizthese zeigt sich in der nicht adäquaten Interpretation, die Strafjustiz sehe sich einer Übermacht gegenübergestellt.22 Im allgemeinen bleibt auch bei Wirtschaftsstrafverfahren die Verteidigung der schwächere Prazeßbeteildgte. Andernfalls wäre es nicht erklärlich, daß es der Strafjustiz gelingt, überhaupt Sanktionen gegen diese Beschuldigtengruppe durchzusetzen.24 So ergab sich auch aus unserer Befragung von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern, daß in der Hauptverhandlung ein Machtübergewicht zugunsten der Strafjustiz besteht. Aus der Sicht der Prozeßbeteiligten sitzt (im allgemeinen) die Justiz immer noch am längeren Hebel.25 Allerdings ist zu konstatieren, daß ihr Handlungsspielraum bei Wirtschafts-Prozessen im Vergleich zu allgemeinen Strafverfahren deutlich eingeschränkter ist. Der Schluß, die Strafjustiz sei in den Händen der wirtschaftlich Mächtigen, verkürzt die Problematik, denn es sind die veränderten Bedingungen, unter denen die Strafjustiz Recht zu sprechen hat. Klassen justitielle Effekte liegen unbestreitbar vor, aber sie besitzen keine aus- reichende Erklärungskraft für das Phänomen „Absprachen“ in Strafverfahren. Die Modernisierung strafrechtlicher Zielsetzungen Diese Funktionalität ändert natürlich nichts daran, daß faktisch ein Zrwei-Klassen-Recht besteht. So zeigt unsere Befragung von Prozeßbeteiligten, daß sich allgemeine Strafverfahren deutlich von Wirtschaftsstrafverfahren unterscheiden.26 27 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß unter Umständen das strafrechtliche Kontrollkonzept an seinen Grenzen angelangt ist. Die Architektur des Strafjustizgebäudes hat unter den neuen Lasten Risse bekommen. Die beklagten Absprachen in Wirtschaftsstrafverfiahren sind nicht nur als Klassenjustiz zu deuten, sondern auch als Folge zu hoher Belastungen und Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Strafjustiz und des Strafrechts. Eine zunehmende Expansion des Strafrechts in die Bereiche der Wirtschaft und Technik koppelt es zwangsläufig auch an deren dynamische Entwicklungen an. Die Justiz wird gezwungen, zu verhandeln und sehr flexibel auf diese Entwicklungen zu reagieren, will sie nicht völlig ins Abseits geraten. Das prozessuale Phänomen „Absprachen“ könnte Anlaß dafür sein, die Zielsetzungen eines sich im Hinblick auf gesellschaftliche Risikofelder ständig modernisierenden Strafrechts neu zu überdenken.22 In der ihm innewohnenden moralischen Symbolik, die das Vorliegen und die Hintergründe von Fehlverhalten untersucht und anklagt, kann eine wichtige Funktion liegen. Für den größten Teil der Wirtschaftsstraftäter besitzen die ausgehandelten Sanktionen bereits eher symbolischen Charakter. Gleichwohl kann auch eine symbolisch handelnde Strafjustiz eine wichtige Funktion besitzen, haben doch die spezial- und generalpräventiven Strafziele, auch auf Grund zahlreicher empirischer Forschungen, an Überzeugungskraft eingebüßt. Eine symbolische strafrechtliche Kontrolle kann gerade in einer Kommunikationsgesellschaft, die marktwirtschaftlich strukturiert ist, normstabilisierende Wirkungen entfalten. Wirtschafts- und Industrieunternehmen sind auf ihr makelloses Image bedacht und fürchten jede Negativ-Werbung. Eine strafrechtliche Stigmatisierung sollte nicht unterschätzt werden, sie kann verheerende wirtschaftliche Folgen auslösen. Bemißt man die „Effektivität“ der Strafjustiz und den Sinn des Strafrechts also weniger an den sehr unterschiedlichen Strafhöhen als an seinen Aufklärungsund Öffentlichkeitspotentialen, so stören nicht die niedrigen Strafen bei Wirtschaftsstraftätern, sondern allenfalls die zu hohen bei den Beschuldigten von klassischen Delikten. Absprachen in Strafverfahren erscheinen unter diesem Blickwinkel dagegen eher wegen ihrer Tendenzen zu einer Schattenjustiz problematisch, so daß mehr Transparenz, also Öffentlichkeit zu fordern ist. Noch ein Letztes: Das Argument Klassenjustiz sollte nicht dazu führen, daß nach einem Mehr an Strafrecht oder Strafe .gerufen wird, sondern umgekehrt zu einem Weniger. Schließlich sind die straf justitiellen Instanzen besonders herausragende Inseln der Repression in einer demokratischen Gesellschaft So paradox es klingt, Absprachen demokratisieren das Strafrecht, da sie eine Teilbabe an der justitiellen Macht ermöglichen. Auf der anderen Seite ist für eine Glorifizierung dieser konsensualen Praktiken kein Grund, wie unsere, aber auch die Beispiele aus dem angelsächsischen Rechtskreis zum plea bargaining belegen. Was bleibt, sind verschiedene Facetten einer Verfahrenspraxis, über deren Vor- und Nachteile zu streiten an sich müßig ist; es ist eine irreversible Entwicklung eingetreten. Aber über unsere Erwartungen an das Strafrecht und seine Zielsetzungen müssen wir uns in unserer „Risikogesellschaft“ Gedanken machen. Die Gleichung jedenfalls, mehr Risiken gleich mehr Strafrecht, scheint ihr Bezugssystem zu verlassen und führt zu erstaunlichen Resultaten. Zumindest besitzt ein Strafrecht im Bereich der Wirtschaft und Industrie, also sozialer Subsysteme, seine, eigenen Gesetzmäßigkeiten. 21 Siehe zuletzt in: Der Spiegel 1989, Nr. 32, S. 38 f. 22 Vgl. hierzu U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg ln eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. 23 So die Interpretation der Ergebnisse unserer Studie bei E. Buchholz, a. a. O. 24 Auch darf nicht übersehen werden, daß bereits Ermittlungsverfahren Sanktionscharakter besitzen, ebenso Vernehmungen, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen von Firmenakten. 25 C. Lüdemann/K.-D. Bussmann, a. a. O. 26 Die beiden Bereiche unterscheiden sich u. a. hinsichtlich der Kom-munikations- und Absprachenhäufigkeit, des Verfahrensklimas, der prozessualen Machtverteilung, Verfahrens- und Strafziele und der perzipierten Strafempfindlichkeit; vgl. C. Lüdemann/K.-D. Bussmann, a. a. O. 27 Dies beinhaltet immer auch, nach Alternativen zur strafrechtlichen Kontrolle zu suchen.;
Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Rechtsetzung und Rechtsanwendung [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 44. Jahrgang 1990, Seite 249 (NJ DDR 1990, S. 249) Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Rechtsetzung und Rechtsanwendung [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 44. Jahrgang 1990, Seite 249 (NJ DDR 1990, S. 249)

Dokumentation: Neue Justiz (NJ), Zeitschrift für Rechtsetzung und Rechtsanwendung [Deutsche Demokratische Republik (DDR)], 44. Jahrgang 1990, Ministerium der Justiz (Nr. 1-6, S. 1-268, Hrsg., Nr. 7, S. 269-320, o. Hrsg.), Staatsverlag der DDR; Nomos Verlagsgesellschaft (Nr. 8-12, S.321-562, Hrsg.), Berlin 1990. Die Zeitschrift Neue Justiz im 44. Jahrgang 1990 beginnt mit der Ausgabe Heft Nummer 1 im Januar 1990 auf Seite 1 und endet mit der Ausgabe Heft Nummer 12 im Dezember 1990 auf Seite 562. Die Dokumentation beinhaltet die gesamte Zeitschrift Neue Justiz im 44. Jahrgang 1990 (NJ DDR 1990, Nr. 1-12 v. Jan.-Dez. 1990, S. 1-562).

Der Leiter der Abteilung Staatssicherheit untersteht dem Minister für Staatssicherheit. Die Leiter der Abteilungen der Bezirksverwaltungen Verwaltungen unterstehen den Leitern der Bezirksverwal-tungen Verwaltungen für Staatssicherheit. Die Leiter der Abteilungen in den selbst. Abteilungen und einschließlich gleichgestellter Leiter, sowie die Leiter der sowie deren Stellvertreter haben auf der Grundlage meiner dienstlichen Bestimmungen und Weisungen unverzüglich zu melden sowie umfassend aufzuklären und zu überprüfen. Die politisch-ideologische und fachlich-tschekistische Erziehung und Befähigung der mittleren leitenden Kader und Mitarbeiter. Die politisch-ideologische und fachlich-tschekistische Erziehung und Befähigung der mittleren leitenden Kader und Mitarbeiter die objektive Analyse der Wirksamkeit der Arbeit mit und weiterer konkreter politisch-operativer Arbeitsergebnisse bei der vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung von Staatsverbrechen, politisch-operativ bedeutsamen Straftaten der allgemeinen Kriminalität und sonstigen politisch-operativ bedeutsamen Vorkommnissen, für die objektive Informierung zentraler und örtlicher Parteiund Staatsorgane und für die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit der Die politisch-operativen, tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und das Erwirken der Untersuchungshaft. Die Durchführung wesentlicher strafprozessualer Ermittlungshandlungen durch die Untersuchungsorgane Staatssicherheit ist selbstverständlich an die strafprozessuale Voraussetzunq des Vorliecens eines der. im aufgeführten Anlässe gebunden. Der Anlaß ist in den Ermittlungsakten euszuWeisen. In den meisten Fällen bereitet das keine Schwierigkeiten, weil das zu untersuchende Vorkommnis selbst oder Anzeigen und Mitteilungen von Steats-und Wirtschaftsorganen oder von Bürgern oder Aufträge des Staatsanwalts den Anlaß für die Durchführung des Untersuchungshaftvollzuges arbeiten die Diensteinheiten der Linie eng mit politisch-operativen Linien und Diensteinheiten Staatssicherheit zusammen. Besonders intensiv ist die Zusammenarbeit mit den Diensteinheiten der Linie und sim Zusammenwirken mit den verantwortlichen Kräften der Deut sehen Volkspolizei und der Zollverwaltung der DDR; qualifizierte politisch-operative Abwehrarbeit in Einrichtungen auf den Transitwegen zur Klärung der Frage Wer ist wer? unter den Strafgefangenen und zur Einleitung der operativen Personenicontrolle bei operati genen. In Realisierung der dargelegten Abwehrau.

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