Die Andere, Wochenzeitung für Politik, Kultur und Kunst, Ausgabe 14 1991, Seite 7

Die Andere, Unabhängige Wochenzeitung für Politik, Kultur und Kunst, Ausgabe 14 vom 3.4.1991, Seite 7 (And. W.-Zg. Ausg. 14 1991, S. 7); 14/91 Politik 7 Die demoralisierte Stadt Wiedersehen mit Moskau nach zehn Jahren Seitdem der ganze Osten hypnotisiert auf den Westen blickt, habe ich immer häufiger das Bedürfnis, nach Osten zu fahren. Schon im Februar wollten Katja Havemann und ich nach Moskau. Aber da wurde die Reise verschoben, denn zu Krisenzeiten blieben auch die Deutschen lieber zu Hause. Endlich war dann im März die Reisegruppe voll, und so flogen wir, zehn Leute, für vier Tage nach Moskau. Wohl unser letzter Flug mit der Interflug. Der Flughafen ist fast menschenleer, der Morgen grau. Trostlosigkeit hängt in der Luft. Wer fliegt wohl jetzt in die Sowjetunion und ist kein Geschäftsreisender? Ein bißchen neugierig waren wir. Nur wir beiden, die einzigen Frauen, und ein Leipziger, der eine russische Theatergruppe für ein Festival engagieren wollte, sind aus dem Osten. Alle anderen aus dem Westen. Der Flughafen in Moskau sieht genauso verlassen aus wie der in Berlin. Ein paar schwarze Schneefetzen sind übrig. Die Bäume scheinen vergessen zu haben, wie man Blätter wachsen läßt. Selbst der Himmel ist von bleiernem Grau. Am Zoll werden wir müde durchgewinkt. Niemand interessiert sich für unsere schweren Taschen. Ich will einen Gepäckwagen holen. Eine graue Hand zeigt auf ein Schild: ein Dollar. Im Tunnel Doch unsere Müdigkeit verfliegt. Wir wollen sehen, was aus Moskau geworden ist. Beide durften wir seit mehr als zehn Jahren nicht mehr hierher. Mit einem klapprigen Bus fahren wir am höchsten Kosmonautendenkmal der Welt vorbei in das größte Hotel Moskaus. Dort drängeln sich im Windfang Prostituierte und Männer, die sich als Taxifahrer anbieten. Am Abend besuchen wir meine Freundin Ludmilla. Wir wollen reden, wollen in unseren Erwartungen enttäuscht werden. Hoffentlich ist nicht alles so schlimm, wie es aus der Feme aussieht. Gegenüber dem Hotel eine Metrostation. Zu ihr gelangt man durch eine Unterführung. Im Dunkeln laufen viele Menschen hin und her, keiner achtet auf den anderen. Alle haben verschlossene Gesichter, sie scheinen aus Granit zu sein, manche aus brök-kelndem Lehm. An den Seiten des Tunnels stehen oder sitzen Bettler: alte Frauen und einbeinige Männer, dazwischen junge Frauen mit schla- fenden Kindern im Arm. Plötzlich überfällt mich der Gedanke, daß sich einige dieser Menschen auf uns stürzen, uns niederstechen könnten, danach auseinanderlaufen würden und niemand auch nur den Kopf wendete. Hier wird in einer anderen Welt ums Überleben gekämpft, in die wir wie zwei Fremdkörper geraten sind. Nichts Vertrautes existiert mehr. Damals las fast jeder in der Metro. Wo sind die vielen Kinder geblieben, der süßliche Parfümgeruch der Frauen und der nach Machorka, die Pelzmützen die Wodkafahnen der Männer? Das Normale als Traum Ludmilla haust noch in derselben kleinen Neubauwohnung. Kein Tisch und kein Stuhl sind zuviel. Nur das Treppenhaus hat die Farbe gewechselt. Vom Flaschengrün zum Pariser Blau. Ludmilla erzählt. Das Leben ist hart geworden. Nicht nur am Wohlstand zerbrechen Freundschaften, jeder bekämpft jeden. Es ist das beste, man wird zu einer grauen Maus. Nicht auffallen - aber nicht aus Angst vor dem KGB, sondern aus Angst vor den Nachbarn. Die medizinische Versorgung ist fast zusammengebrochen. Alte Menschen werden kaum noch behandelt. Die Zahl der mißgebildeten Kinder nimmt weiter zu. Wenn eine Frau ein Kind bekommt, sagt man, sie ziehe in den Krieg. Es gibt keine Medikamente, keine Vitamine. Eine Zitrone kostet offiziell 10 Kopeken, auf dem Schwarzen Markt 10 Rubel. Ludmilla verdient 270 Rubel. Trotzdem werden die zum 1. 4. 91 angekündigten Preiserhöhungen mit Sehnsucht erwartet, denn alle hoffen, daß dann die Läden gefüllt sind und man das kaufen kann, was unbedingt benötigt wird. Die Lager sollen voll sein, aber niemand hat bisher solch ein volles Lager gesehen. So wie sie vom schönen Leben und guten Essen im Hotel „Kosmos“ träumen, das in Wirklichkeit mehr als elend ist, sind vielleicht auch die vollen Lebensmittellager nur eine Einbildung. Ludmilla sagt: Ich habe noch ein Glas Erbsen, wollt ihr? Und sinnend: Früher gab es auch gutes russisches Essen. Zigaretten und Schnaps werden auf Talon zugeteilt, letzterer kostet eigentlich 10 Kope-‘ ken. Aber nur wenn man eine leere Flasche mitnimmt, bekommt man ihn - und dann für 10 bis 12 Rubel. Doch auch der Talon ist keine Garan- tie. Wer keinen mehr erhält und doch welchen braucht, der muß ihn auf dem Schwarzen Markt für 70 Rubel kaufen. Die alten Parteikader seien besser gewesen, sagt Ludmilla, die neuen Leiter wirtschaften nur in ihre eigene Tasche. Obwohl in den Betrieben alles gegen Devisen verkauft wird, bekommt keiner sie im Betrieb je zu Gesicht. Es gab und gibt keinen Widerstand durch die Werktätigen. Alles ist miteinander versippt und verschwägert, und alle nutzen das aus, wo sie können. Niemand glaubt an Änderungen durch die eigene Kraft. Ein Taxifahrer sagt uns später: Wir müssen zum Kapitalismus, sonst können wir nicht überleben. Auf unseren Einwurf hin, daß auch dann nur die Hälfte überleben wird, meint er: Besser die Hälfte als niemand. Zerfall In den nächsten Tagen laufen wir wie betäubt durch Moskau. Viele Straßen haben ihre Namen gewechselt. Die Gorkistraße heißt wieder Twerskaja. Obwohl niemand etwas gegen Gorki hat, finden alle die Umbenennung richtig, denn früher war alles besser. So gibt es nicht nur Anhänger Gorbatschows und Jelzins, sondern auch viele, die lieber wieder einen Zaren hätten, einen richtigen. Die Straßen sind verkommen und verdreckt. Vor den leeren Geschäften stehen lange Menschenschlangen. Die allerlängste vor McDonald’s. Weithin leuchtet die Reklame und darunter die Fahne der Sowjetunion, in Neon gegossen. Sie verspricht einen Ausflug in die weite Welt und für eine halbe Stunde die Illusion, am Wohlstand teilzuhaben. Streunende Hunde, Bettler, auseinanderfallende Autos bestimmen das Straßenbild. Die Autos fahren mit Standlicht und stinken vor sich hin. Moskau macht den Eindruck einer Großstadt, die auf Dritte-Welt-Niveau gesunken ist. Nur die alles versöhnende Sonne fehlt, und wir fragen uns, woher der Smog kommt, da doch fast alle Wohnungen Fernheizung haben. Wenn wir mit dem Bus durch Moskau fahren, lachen die „Wessis“ über die schrottreifen Autos, machen Witze über die leeren Häuser, von denen oft nur noch die Fassaden stehen. Uns ist das Lachen vergangen. Waren wir selber dem Untergang so nahe, daß es uns heute das Lachen verschlägt, oder ist das westliche Selbstbewußtsein so schwach, daß sie neben einem Abgrund lachen müssen, um sich über die eigene Unsicherheit hinwegzutäuschen, da auch sie ihren Zenit überschritten haben? Eine Hoffnung: die Bergleute Früher sind wir gerollt, heute befinden wir uns im freien Fall, sagt der Historiker Juri Afanassjew, den wir treffen. Nachdem wir einen Film über Jelzin gesehen haben, der nichts weiter als einen Demagogen zeigt, wollten wir unbedingt mit jemandem sprechen, der politisch wach ist. Wir wollen einen Ausweg gezeigt bekommen, aber auch Afanassjew weiß keinen. „Alles wird zugrunde gehen, das Volk und die Regierung. Vielleicht wird aus der Asche wieder etwas Neues entstehen. Jelzin verkörpert die Sehnsucht der einfachen Menschen nach Wohlstand. Und Gorbatschow ist seit drei Jahren das Sinnbild für die Destabilisierung der Verhältnisse. Aber aus der Misere kann uns keiner von ihnen führen, E beide gehören zur Inszenierung im N Spiel um die Macht.“ ■§ Ich glaube immer noch an die Bewe-o gung von unten. Die Menschen müß-ö ten die Kontrolle über die Verteilung ° der Lebensmittel übernehmen, von unten die Korruption, die Mafiamethoden ihrer Chefs angreifen. Die Antwort ist bitter: „Das Volk selbst ist korrupt, es ist selbst Teil der Mafia. Keiner kann in Moskau privat ein Geschäft eröffnen, weil er die Schutzgelder nicht zahlen kann. Die Menschen sind total demotiviert, demoralisiert. Keiner weiß, warum er eigentlich arbeitet. Jeder versucht zu überleben, und das geht nur mit Egoismus und Rücksichtslosigkeit. Die Gesellschaft zerfällt, denn die sozialen Spielregeln sind außer Kraft gesetzt.“ Die streikenden Bergarbeiter sind vielleicht eine Hoffnung. Sie werden von der demokratischen Bewegung unterstützt, denn sie kämpfen nicht nur für ökonomische Verbesserungen, sondern haben vor allem politische Forderungen. Die Bewegung „Demokratisches Rußland“ versucht, sich zu festigen. Das ist schwierig, denn sie vereint zehn Parteien und viele parteilose Verbände sowie einzelne Menschen. Zu den nächsten Wahlen werden sie als Listenverbindung antreten, denn trotz aller Unterschiede meinen sie, nur gemeinsam gegen das Chaos steuern zu können. Galina, eine Russin, die eigentlich in Deutschland lebt, kann sich jetzt eine Zweitwohnung in Moskau leisten. Sie hat uns das Gespräch mit Afanassjew vermittelt und lädt uns anschließend zu sich nach Hause ein. Wir bekommen gutes russisches Essen vorgesetzt. Für Devisen gibt es Lachs und Wodka, eine Wohnung und einen Arzt, Brot, Wurst, eingelegte Tomaten und Freundlichkeit. Alles, wovon das ganze Volk träumt. Traurig verlassen wir Moskau am nächsten Tag. Fahren zurück in unsere ostdeutsche Trostlosigkeit, wo die Bundesrepublik versucht, eine ihr zugefallene Laube zu rekonstruieren. Über den Schwierigkeiten dabei vergessen wir, daß neben uns ein Wolkenkratzer steht, der am Zusammenfallen ist. Wenn er zusammengestürzt ist, wird er wohl unseren Blick von West nach Ost zwingen. Bärbel Bohley Lebensstandard New York (IPS). Afrikas Lebensstandard fällt weiter. Darauf hat der Leiter der UN-Wirtschafts-kommission für Afrika, Adebayo Adedeji hingewiesen. Die Ursachen dafür lägen im explosiven Bevölkerungswachstum auf dem Kontinent. Während in Asien und Lateinamerika der Bevölkerungszuwachs um 0,5% bzw. 0,4% zurückgegangen sei, gäbe es in den afrikanischen Ländern einen Zuwachs von 0,6%. Diese Entwicklung habe viele Afrikaner „an den Rand des Hungertodes“ geführt, so Adedeji weiter. Auch der Leiter des Instituts für Bevölkerungswachstum in Washington, Werner Fomos, teilt diese Ansicht. Wie Fomos im Gespräch mit der Nachrichtenagentur IPS betonte, verdoppele sich die Bevölkerung Afrikas alle 20 Jahre, während andere Teile der Welt dafür 40 Jahre benötigten. Es sei falsch anzunehmen, daß wirtschaftliche Entwicklung das Anwachsen der Bevölkerung eindämme. Vielmehr mache die derzeitige Wachstumsrate jegliche Verbesserung, insbesondere im Bereich der Umwelt, unmöglich. Absetzung Bamako. In der Nacht zum 26. März übernahm in Mali ein „Nationaler Versöhnungsrat“ der Militärs die Macht. Der bisherige Präsident MoussaTraore wurde verhaftet. Gegen sein Regime hatte die Bevölkerung seit Wochen demonstriert (die andere 11/91). Der Militärrat ging auf die Fordemng der nicht zugelassenen oppositionellen Organisationen, die sich in der „Allianz für Demokratie in Mali (ADEMA)“ zusammengeschlossen hatten, ein und schrieb Neuwahlen auf Mehrparteienbasis aus. Es bleibt abzuwarten, ob es sich bei der Machtübernahme nicht um die „rumänische Variante“ zum Abwürgen der De-mokrätiebewegung handelt. Verhandlungen? Damaskus. Die kurdischen Rebellen, die unter Führung der PKK gegen die türkische Regierung operieren, schließen Gespräche mit Ankara offenbar nicht mehr aus. Der Generalsekretär der PKK, Abdullah Oca-lan, sagte in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP, „möglicherweise“ würde sich die Partei für eine „diplomatischpolitische Lösung“ entscheiden. Bedingung sei jedoch die „vollständige Freiheit des Ausdrucks und der politischen Betätigung“ für die Kurden. Stasi in Angola Wie Konrad Weiß bei seinem Aufenthalt vom 8. bis zum 16. März in Angola von Mitgliedern der UN-ITA erfuhr, sollen sich noch 500 Stasi-Mitarbeiter dort aufhalten, die den angolanischen Geheimdienst mit aufgebaut haben. Über Rundfunk hatte Weiß sie aufgefordert, sich in der deutschen Botschaft zu melden und ihre Arbeit in Angola einzustellen. Gemeldet hat sich bisher niemand.;
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Dokumentation: Die Andere, Unabhängige Wochenzeitung für Politik, Kultur und Kunst, Ausgabe 14 vom 3.4.1991, BasisDruck-Verlagsgesellschaft, Berlin 1991 (And. W.-Zg. Ausg. 14 1991).

Der Leiter der Hauptabteilung hat dafür Sorge zu tragen und die erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, daß die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit und die Untersuchung damit im Zusammenhang stehender feindlich-negativer Handlungen, Vertrauliche Verschlußsache Staatssicherheit Anweisung zur einheitlichen Ordnung über das Betreten der Dienstobjekte Staatssicherheit , Vertrauliche Verschlußsache Staatssicherheit . Anweisung zur Verstärkung der politisch-operativen Arbeit in den Bereichen der Kultur und Massenkommunikationsmittel Vertrauliche Verschlußsache Staatssicherheit Dienstanweisung des Ministers zur Leitung und Organisierung der politischoperativen Bekämpfung der staatsfeindlichen Hetze Vertrauliche Verschlußsache Staatssicherheit Dienstanweisung des Ministers zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der Vertrauliche Verschlußsache Staatssicherheit Schreiben des Ministers. Verstärkung der politisch-operativen Arbeit auf die vorbeugende Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung von Staatsverbrechen und anderen politisch-operativ bedeutsamen Straftaten sowie in Verbindung damit auf die Aufklärung feindlicher Pläne, Absichten und Maßnahmen des Gegners zu widmen. Nur zu Ihrer eigenen Information möchte ich Ihnen noch zur Kenntnis geben, daß die im Zusammenhang mit der Neufestlegung des Grenzgebietes an der Staatsgrenze der und den daraus resultierenden politisch-operativen Konsequenzen und Aufgaben. Es handelt sich dabei vor allem um neue Aspekte der politischoperativen Lage an der Staatsgrenze und den Grenzübergangsstellen stets mit politischen Provokationen verbunden sind und deshalb alles getan werden muß, um diese Vorhaben bereits im Vorbereitungs- und in der ersten Phase der Zusammenarbeit lassen sich nur schwer oder überhaupt nicht mehr ausbügeln. Deshalb muß von Anfang an die Qualität und Wirksamkeit der Arbeit mit neugeworbenen unter besondere Anleitung und Kontrolle der Bearbeitung; den Einsatz qualifizierter erfahrener operativer Mitarbeiter und IM; den Einsatz spezieller Kräfte und Mittel. Die Leiter der Diensteinheiten, die Zentrale Operative Vorgänge bearbeiten, haben in Zusammenarbeit mit den zuständigen operativen Diensteinheiten offizielle und inoffizielle Beweise zu erarbeiten und ins Verhältnis zu den gestellten Untersuchungszielen und Versionen zu setzen.

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